Hingabe ist die auf der Welt am weitesten verbreitete Yoga-Technik, obwohl sie nur selten „Yoga“ genannt wird. Hingabe (im Sinne von „Glauben“), das anhaltende Fokussieren eines Verlangens auf ein besonderes spirituelles Ideal, ist so gebräuchlich, dass die Religionen der Welt „Glaubenssysteme“ oder „Glauben“ genannt werden, als ob nichts anderes als das in der spirituellen Praxis existierte. Was ist das, was wir als Hingabe bezeichnen? Warum ist es so wichtig?
Die Bedeutung von Verlangen wurde ganz am Anfang dieser Lektionen erörtert und seitdem oft erwähnt. Wir haben zunächst den rein logischen Aspekt von Hingabe betrachtet. Haben wir eine Vorstellung von etwas, eine Vision davon und einen anhaltenden Wunsch es zu erreichen, dann haben wir ein mentales und emotionales Vehikel, das uns befähigt, so zu handeln, dass wir ans Ziel gelangen. Als Vergleich wurde die Reise zu einem schönen Ort namens Kalifornien angeführt. Wären wir niemals fähig, uns den Ort vorzustellen, besäßen wir kein Wissen davon, wie könnten wir uns jemals dazu entschließen, dorthin zu gehen? Es ist also zuerst ein Bild da. Dann durchtränkt das Verlangen das Bild. Danach kommt die Handlung. Oder möglicherweise kommt auch ein nicht zielgerichtetes Verlangen zuerst hoch. Wir wissen nicht zu welchem Zweck – nach irgendetwas mehr. Es klinkt sich in etwas ein, dann in etwas anderes und dann wieder in etwas anderes. Schließlich heftet es sich an etwas Großes, eine große Idee: „Erleuchtung“. Dann machen wir uns daran, das zu erreichen – im Bewusstsein, dass es das Höchste ist, was wir erreichen können. Verlangen hält immer Ausschau nach etwas mehr. Verlangen sucht ständig nach dem Größten, dem Besten, dem Meisten. Alle Wünsche, die in uns hochkommen, sind in ihrem Ursprung göttlich, es ist der Ausdruck der Suche nach dem Größtmöglichen im Leben. Wünsche sind die Urform des Gurus. Offensichtlich reicht das Verlangen alleine nicht aus, uns das erreichen zu lassen. Man muss bestimmte Wege einschlagen, dorthin zu gelangen.
Hingabe ist mehr als der psychologische Mechanismus, ein Ideal in unser Herz und unseren Verstand einzupflanzen, so dass wir ihm dann nachstreben können. Da spielt viel mehr mit als das. Gerichtete emotionale Energie, ein Verlangen, ein Wunsch, birgt große Kraft in sich. Die Handlung der Hingabe, die Handlung, das höchste Ideal, das wir uns vorstellen können, zu erwünschen, ist selbst eine transformierende Kraft. Sie bewirkt Veränderungen tief in unserem Nervensystem. Wenn wir Hingabe an ein hohes Ideal verspüren, wird uns das alleine schon im Inneren verwandeln – noch bevor wir uns hinsetzten, um irgendein Pranayama oder eine Meditation auszuführen oder irgendeine der anderen fortgeschrittenen Yoga-Übungen. Hingabe ist die erste Yoga-Technik, die Haupt-Yoga-Übung und das Feuer, das alles auf dem Weg erleuchtet. Ohne diese ist alles andere, was wir tun, nur Fassade. Hingabe an unser höchstes Ideal ist der tätige Guru in uns.
Wie all die anderen Befähigungen, die wir hier erörtert haben, ist Hingabe eine natürliche Manifestation in unserem Nervensystem. Es ist die eine, die am offensichtlichsten ist und in jedem Menschen auf die eine oder andere Weise hochkommt. Yoga-Techniken wirken stimulierend und öffnen die natürlichen Fähigkeiten in uns, um sie zu vollkommener Funktionsweise zu entfalten. Es gibt einen Yogazweig, „Bhakti“ genannt, der sich damit beschäftigt, Verlangen und Hingabe bis zur höchsten Ebene spiritueller Effektivität zu optimieren. Kennt man die grundlegenden Methoden von Bhakti-Yoga und wendet sie an, kann sich das außerordentlich auf den Verlauf unseres spirituellen Lebens auswirken.
Bhakti bedeutet „Liebe zu Gott“. Ist Gott für dich nicht das richtige Wort, nutze einen Ausdruck wie „Liebe zum höchsten Ideal“ oder „Liebe zur höchsten Wahrheit“ – was immer bei dir für die größtmögliche Verwirklichung, die du dir vorstellen kannst, steht. Was auch immer es ist, die Liebe dazu wird dich verändern und dich dazu inspirieren, alles dir Mögliche zu tun, dich damit zu vereinigen. Wir wissen alle, dass Liebe uns verändert. Wenn wir uns um etwas oder jemanden mehr Sorgen machen, als um uns selbst, verändert uns das. Die Beatles haben auch gesungen: „All you need is love.“ („Alles was du brauchst, ist Liebe.“) Ach, wenn es doch nur so einfach wäre, würde die Erde bereits heute ein Paradies sein und jede Religion würde millionenfach Heilige hervorbringen. Wir sind noch nicht dort, aber wir sind auf dem Weg dahin. Liebe war damals der richtige Ausgangspunkt und er ist es heute noch. Damit ist nicht gemeint Liebe zu allem und zu jedem – überall hingestreut, ohne besonderen Fokus. Diese Art universeller Liebe kommt später, wenn sich das natürliche Ausfließen reinen Glückseligkeitsbewusstseins und göttlicher Ekstase einstellt. Die Art von Liebe, die die menschliche spirituelle Transformation vorantreibt und all der Yoga, der sie zum Vorschein bringt, ist die Liebe zu deinem höchsten Ideal.
Was ist das höchste Ideal? Wer entscheidet darüber, was es ist? Dein Guru? Dein Priester? Dein Rabbi? Dein Mullah? Da wird es viele Vorschläge geben. Jeder will, dass du seinen Idealen nacheiferst. Das ist auch in Ordnung. Das ist ein Spiel, das wir Menschen tausende Jahre lang gespielt haben. Verehre meine Ideale, bist du bitte so gut? – Sonst setzt es was!
Aber nur du kannst darüber entscheiden. Nur du weißt, was am hellsten in deinem Herzen leuchtet. Das ist dein höchstes Ideal, was wie ein Leuchtfeuer in deinem Herzen brennt. Möglicherweise ist das Jesus, vielleicht Krishna, vielleicht Allah; möglicherweise dein Guru, vielleicht das Licht in dir. Es kann alles sein. Nur du kannst das wissen. Wer oder was immer es ist, es ist deines. Es ist persönlich. Du erkennst es, wenn du es siehst, weil es wie ein Signalfeuer in dir brennt. Es beinhaltet alle Tugend, allen Fortschritt und ist unfähig irgendjemandem zu schaden. Es ist das, was dich nach Hause führt, zu reinem Glückseligkeitsbewusstsein und göttlicher Ekstase.
In der Sprache von Bhakti wird das „Ishta“, „gewähltes Ideal“, genannt. Du wählst es aus. Wenn nichts hochkommt, was so licht brennt, ist es auch okay. Du wirst es nicht glauben! Aber da du das hier liest, bewegst du dich in Richtung deines höchsten Ideals, deines Ishta. Dein höchstes Ideal steckt hinter deinem Beweggrund, dir Wissen anzueignen und vielleicht deiner Neigung Yoga-Techniken zu üben. Dein Ishta ist irgendwo in dir. Dein Verlangen führt dich zu etwas. Das ist genauso viel Ishta, als hättest du in deinem Herzen eine klare Vision. Deine Reise ist dein Ishta.
Bhakti beginnt mit dieser allerersten Frage: „Gibt es da noch etwas mehr?“
Das Erstaunliche am Bhakti-Prozess ist, wie er mit der Zeit immer klarer wird. Zuerst ist die Auffassung davon verschwommen, einige Wünsche, die hochkommen. Es hat etwas Mysteriöses an sich. Allein schon diese Öffnung lässt Wissen herein. Wer weiß, von woher es kommt. Dann tasten wir uns weiter und beginnen etwas zu unternehmen, einige Übungen zu machen. Schließlich beginnt man, einige innere Erfahrungen zu haben, ein bisschen glückselige Stille, und dann kommt da etwas Klarheit. Wir lesen in den heiligen Schriften und Worte, die zuvor nur Worte waren, werden mit strahlender Bedeutung belebt. Nach einer Weile wird unser Ishta plastischer. Wir erkennen uns selbst in einer Beziehung mit dem stehend, was in uns vor sich geht. Bhakti wird ständig stärker und wir lassen uns mehr und mehr auf das göttliche Spiel ein.
Irgendwo entlang des Weges finden wir die Techniken von Bhakti und wenn wir uns die zu Nutze machen, beschleunigt sich der göttliche Prozess. Möglicherweise lesen wir etwas über die Techniken, vielleicht entdecken wir sie auch von selbst.
Was sind also die Bhakti-Techniken? Gut, es gibt in Wirklichkeit nur eine. Diese manifestiert sich auf tausend Wegen. Es ist keine Übung, die wir jeden Tag während unserer Pranayama- und Meditationssitzungen machen. Es ist etwas, das langsam in unseren täglichen Handlungen aufsteigt.
Ständig kommen Wünsche. Wir wollen dies, wir wollen jenes. Wir wollen Geld; wir wollen etwas zu Essen; wir wollen eine(n) Liebhaber/in; wir wollen ein neues Auto. Sogar Ärger und Frustration sind Wünsche – Wünsche, die auf eine Wand geprallt sind und in Folge dessen spielt die Energie in unserem Nervensystem verrückt. So fliegen viele Wünsche über den gesamten Platz, sie schicken uns hin und her und rammen einer in den anderen hinein. Überhaupt alles, was man sich vorstellen kann. Bei der Bhakti-Technik geht es um das Umleiten unserer Wünsche, um deren Zügelung. Einige Menschen besitzen ganz natürlich diese Gabe. Bei anderen stellt sie sich im Laufe der Zeit in dem Maße ein, wie durch Meditation mehr Stille in das Herz und den Verstand kommt. Die innere Stille, die wir in der Meditation kultivieren, geht noch tiefer als die heraufblubbernden Wünsche, so dass wir diese wie bewegliche Objekte sehen können. Dann haben wir uns etwas von der emotionalen Energie in uns gelöst und können sie in Richtung unserer höchsten Ideale einklinken – aber ein ganz sanftes Einklinken, keine Gewaltanwendung, keine großen Unternehmungen. Es ist gerade mal ein leichtes Anbinden an unser Ideal, sobald wir spüren, wie emotionale Energie nach oben schwillt. Es ist dabei unwichtig, ob es sich um positive oder negative Energie handelt.
Als Beispiel stellen wir uns vor, dass wir an einer roten Ampel aufgehalten werden und sich Frustration in uns breit macht, weil wir zu einem Termin zu spät kommen. Da wird sehr viel emotionale Energie vergeudet. Wir sind also frustriert. Nimm diese Frustration und lenke sie um. Mit deiner Aufmerksamkeit kannst du leicht das rote Licht dort als Gegenstand der Frustration, welcher dort kocht, loslassen. Ersetze ganz einfach diesen Gegenstand durch dein höchstes Ideal. Das hat sehr viel Ähnlichkeit mit Meditation. Du favorisierst ganz einfach ein Gedankenobjekt vor einem anderen. Du bist also jetzt über dein höchstes Ideal frustriert. „Verdammtes Ishta! Warum bin ich in dich noch nicht eingetaucht? Ich bin sehr frustriert!“ Jetzt hast du eine wirkliche Motivation, deine tägliche Meditation nicht zu verpassen. Nicht nur das, deine auf diese Weise gelenkte emotionale Energie erzeugt spirituelle Veränderungen im Inneren deines Nervensystems. Es schließt dein Nervensystem deinem Ideal auf. Es birgt eine gewisse Ironie, dass wir ein rotes Licht mit unseren Emotionen nicht verändern können. Unser Nervensystem können wir damit jedoch zum Göttlichen öffnen. Es scheint etwas Wertvolles zu sein, das zu tun, oder etwa nicht?
Diese Vorgehensweise kann bei jeder Gefühlsregung, ob positiv oder negativ, angewandt werden – mit unseren Gefühlen zu allem, was wir tun. Heißt das, dass wir aufhören, die Dinge zu tun, die wir tun und stattdessen davonlaufen, um zu meditieren? Nein. Wir meditieren, wenn es Zeit zur Meditation ist und während wir handeln, tun wir die Dinge, die wir uns in diesem Leben entschlossen haben zu tun. Das Umleiten emotionaler Energie zu unserem höchsten Ideal wird unsere Handlungen beleben, was immer das sein mag, und es wird unsere Übung extrem aufladen, wann immer wir uns hinsetzen sie auszuführen. Machen wir die Übungen, halten wir uns an die Vorgehensweisen der Übungen, nicht an die der Bhakti-Übungen. In dem Maß, in dem Bhakti in uns aufgrund der Umlenkung unserer Wünsche während des Tages kocht, werden unsere Übungen unterstützt. Wir wollen die Gewohnheit von Bhakti in unserem Leben still kultivieren. Wir sehen von außen betrachtet vielleicht völlig unverändert aus, doch im Inneren drehen sich die Räder von Bhakti ständig. Wir erfahren ein Ansteigen unserer spirituellen Intensität. Das nennt man „Tapas“. Tapas ist das zu einer Gewohnheit gewordene Bhakti; und so hört dann Bhakti wie eine ewige in uns brennende Flamme niemals auf. Mit dieser Art von Bhakti wird unser gesamtes Leben zu einer spirituellen Übung.
Mutter Teresa sagte, dass sie Jesus in den Augen jedes behinderten Kindes sieht, dem sie hilft. Das ist Bhakti.
Uns wird das so nicht immer gelingen. Das setzen wir auch nicht voraus. Urteile nicht über dich selbst, ob du in der Lage warst, deine Frustration an der roten Ampel in Frustration bezüglich deiner Erleuchtung umzuwandeln. Erinnere dich nur von Zeit zu Zeit an diese Vorgehensweise, während du deine täglichen Arbeiten ausführst, besonders wenn du dich selbst in einem Whirlpool von emotionaler Energie ertappst. Das ist für Bhakti die wichtigste Zeit. Schon ein Bewusstsein dieses Prinzips von Bhakti setzt Dinge im Inneren in Bewegung, sobald Emotionen aufflammen.
Der große indische Heilige des 19. Jahrhunderts, Ramakrishna, war ein Meister der Schaffung großer Ergüsse von Bhakti. Er kroch dann am Boden um die Basis der Statue der göttlichen Mutter herum, die er anbetete, und schluchzte und heulte für die kleinsten Berührungen von ihr im Inneren. Je erregter er wurde, desto mehr lenkte er das auf sein Ishta, die Statue. Er machte den Eindruck eines Verrückten. Währenddessen arbeitete sein Bhakti wie ein Laserstrahl, der durch jede Blockade in seinem Nervensystem schneidet. Allein durch Bhakti wurde er zum Göttlichen.
Wir bemühen uns hier in diesen Lektionen nicht notwendigerweise um die Extreme von Bhakti, das liegt aber bei dir. Schon ein wenig Bhakti hat große Auswirkungen. Ein großes Kraftpotential liegt darin. So viel, dass wir uns dessen immer bewusst sein sollten, dass intensives Bhakti große Auswirkung auf das Aufsteigen unserer Kundalini haben kann, sowohl direkt durch die emotionale Energie als auch durch den Effekt des Turboladers, den Bhakti in all unsere Übungen bringt. Wie mit allen Yoga-Übungen, können wir es auch mit Bhakti übertreiben. Daran sollten wir auch denken. Unsere Erfahrungen sind das beste Maß dafür, ob wir etwas übertreiben oder nicht. Jeder hat seinen eigenen Zeitplan, seine eigene Geschwindigkeit für den spirituellen Reinigungsprozess. Lass deine Erfahrungen dein Führer sein.
Weil die Methode des Bhakti immer wieder zu vorhersagbaren Ergebnissen führen wird, können wir sagen, dass sie eine systematische Wissensanwendung ist. Bhakti ist die Wissenschaft der Hingabe – in der Tat eine mächtige Wissenschaft.
Lasst uns nun zu Kundalini zurückkehren und etwas mehr über einige Symptome sprechen, die sich zeigen und was zu tun ist, wenn es scheint, dass die Dinge etwas ins Ungleichgewicht geraten sind.
Der Guru ist in dir.