Das Wort »Samyama« hat für viele einen Beigeschmack des Geheimnisvollen und Mysteriösen. Es ist umgeben von einer Aura des Übernatürlichen, wenn man ihm überhaupt schon einmal begegnet ist. Für jene, die etwas mit den Yoga Sutren des Patanjali vertraut sind, umfasst Samyama vage die letzten drei der berühmten acht Yoga-Glieder und man bringt damit den Erwerb »übernatürlicher Kräfte« oder »Siddhis« in Verbindung. Tatsächlich widmet Patanjali eines seiner vier Kapitel der Yoga Sutren den besagten übernatürlichen Kräften, auch wenn er uns rät, an ihnen nicht zu sehr anzuhaften. Das klingt alles ziemlich esoterisch, nicht wahr?
Was aber, wenn ich dir sage, dass Samyama nur ein schickes Wort für das systematische Loslassen unserer Wünsche und Absichten in die Stille ist und dass wir durch die Kultivierung dieser Gewohnheit unsere Lebensqualität auf vielfältige praktische Weise verbessern können? Ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht: Wir haben in Wirklichkeit Samyama bereits unser ganzes Leben angewandt, zumindest, wenn wir unsere Wünsche der Vorstellung einer höheren Kraft unterstellt haben. Haben wir das gemacht, haben wir davon eine Erleichterung in allem erfahren, was uns zu der Hingabe gedrängt hat. Oft ist davon ein dringend benötigter Wandel in unserem Leben in Richtung größerer Öffnung und Erfüllung ausgegangen. Wie immer unsere Vorstellung von einer höheren Kraft aussehen mag und was immer unser religiöser Hintergrund ist, unsere Hingabe geschah unweigerlich an eine lebendige Gegenwart, die wir auch als »Stille« bezeichnen können. Es ist der Akt der Hingabe, der zu Erleichterung und Öffnung zu etwas Neuem führt. Dies ist immer ein Wunder, wie subtil oder handgreiflich das Ergebnis auch immer sein mag. Wir brauchen keine übernatürlichen Kräfte zur Schau stellen, um in unserem Leben viele Wunder zu erleben. Wir brauchen dazu nur eine bleibende Stille in uns und eine Fähigkeit, unsere Gedanken, Gefühle und Handlungen in Diese hinein loszulassen.
Jene, die diese Lektionen der Reihe nach durchgelesen haben, wissen, dass wir seit Beginn unser Augenmerk auf die Kultivierung von Stille durch das tägliche Üben der tiefen Meditation gerichtet haben. Das haben wir auch die Kultivierung bleibender innerer Stille genannt. Es hat viele Namen, doch ist es immer dasselbe: unsere innere Natur, aus der aller Frieden, alle Liebe, Energie, Kreativität und Errungenschaften geboren werden. Bleibende innere Stille kommt ganz natürlich in uns auf, wenn wir über Wochen, Monate und Jahre täglich meditieren.
Hier bei den Fortgeschrittenen Yoga Übungen widmen wir uns auch der Kultivierung einer besonderen Art von Leitfähigkeit im menschlichen Nervensystem. Wir nennen diese die »ekstatische Leitfähigkeit«, weil sie ekstatisch ist. Auf einer fortgeschritteneren Ebene nennen wir sie auch »ekstatische Ausstrahlung«, weil unsere Ekstase ausstrahlend wird und über unseren physischen Körper hinausreicht – nicht nur ab und zu, sondern die ganze Zeit. Dieses aufkommende energetische Phänomen wird auch »Kundalini« genannt. Es ist eine Transformation in der Neurobiologie.
Was hat diese ekstatische Eigenschaft in uns mit Stille und Samyama zu tun? Sie liefert das Medium, mithilfe dessen sich die Stille durch uns hinaus in das tägliche Leben »bewegen« kann. Auf diese Weise erfahren wir die glückselige Stille in uns als überfließende Freude in unserem Leben. Freude ist die erste Manifestation davon. Von da aus geht es auf zahllosen Wegen entsprechend den Notwendigkeiten unseres Lebens und unserer Umgebung weiter nach außen. Wir wissen alle intuitiv, dass wir durch »Stillsein« diesen Prozess der göttlichen Ausschüttung anzapfen können.
So heißt es auch im Alten Testament: »Sei stille, und wisse, dass ich Gott bin.«
Dies ist keine neue Lehre! Wie man ein Leben aus dem Inneren der uns angeborenen Stille lebt, war schon immer, seit unermesslichen Zeiten, als der Heilige Gral der menschlichen Existenz bekannt.
Doch wie gehen wir vor? Es ist ein guter erster Schritt, mit täglicher tiefer Meditation bleibende Stille zu kultivieren, genauso wie es gut ist, ekstatische Leitfähigkeit durch das Pranayama der Wirbelsäulenatmung zu generieren. Der nächste Schritt ist Samyama, das zum ersten Mal schon in Lektion 150 als eine Kernübung eingeführt wurde. Seitdem wurde immer wieder darauf Bezug genommen. In den letzten drei Lektionen haben wir zusätzliche strukturierte Anwendungen von Samyama eingeführt und haben mit dem kosmischen Samyama (fortgeschrittenes Yoga Nidra), durch die Aufwertung des Einflusses unserer Yoga-Stellungen und auch durch Kräftigung unserer ernsthaften Gebete unser Bewusstsein zu seiner natürlichen Grenzenlosigkeit ausgeweitet. Dies sind nur einige Beispiele für die Wege, wie wir die Prinzipien von Samyama nutzen können, um unsere Erfahrungen im täglichen Leben zu verbessern, indem wir den positiven Einfluss der Stille in die Gleichung einbringen. Wir haben dies die Erweckung der »Stille im Handeln« genannt.
Es gibt da noch viel mehr und je weiter wir bei der Einbeziehung von Samyama in unser tägliches Leben vorankommen, desto mehr werden wir es uns zur Gewohnheit machen, los- und fließen zu lassen, anstatt ständig mit uns selbst und allem um uns herum zu hadern. Wir werden die strukturierten Übungen zu den Zeiten, die wir für sie in unserer täglichen Routine festgelegt haben, aufrechterhalten. Mit diesen kultivieren wir die inneren Gewohnheiten der bleibenden Stille (innere Stille), ekstatische Leitfähigkeit und Ausstrahlung und den Prozess des natürlichen Loslassens unserer Gedanken, Gefühle und Handlungen in die Stille. Auf diese Weise wird unser Leben zu einer ständigen freudevollen Aussendung eines göttlichen Zweckes, ein nicht endender Fluss von Stille im Handeln. Wir werden zu einem Partner in diesem Prozess und finden zu einem Leben ohne Furcht und Leiden, auch wenn das Leben äußerlich im Großen und Ganzen so weitergeht wie zuvor. Es ist unsere innere Sichtweise, die in der Stille ständig wiedergeboren wird, und all unsere Beziehungen und Handlungen werden dementsprechend beeinflusst.
Im Laufe der weiteren Lektionen werden wir tiefer in die Art und Weise eintauchen, wie das Aufkommen der Stille und die Gewohnheit von Samyama auf praktische Weise im täglichen Leben genutzt werden können. Mit einem Grundlagenwissen über die Prinzipien von Samyama und – noch wichtiger – Praxis und Erfahrung werden wir in der Lage sein, an Bereiche zusätzlicher spiritueller Übungen heranzugehen, die früher vielleicht problematisch gewesen sein mögen. Wir meinen damit »Selbstanalyse oder Selbsterforschung« und »Karma Yoga« (Dienst), wichtige spirituelle Übungen, die aber für Praktizierende oft problematisch gewesen sind, weil sie die Gefahr bergen, dass man sich in Intellektualisierung und/oder emotionale Hürden verstrickt. Mit einem intelligenten Ansatz zur Anwendung der Samyama-Prinzipien können diese Hürden überwunden werden, was zu viel mehr Erfüllung im Leben führt.
Du siehst also, dass Samyama sowohl etwas Gewöhnliches wie auch etwas Außergewöhnliches ist. Gewöhnlich, weil es dabei einfach darum geht, das zu tun, was wir uns die meiste Zeit unseres Lebens gewünscht haben zu tun: Von der tiefsten, fähigsten und sichersten Ebene dessen, was wir sind, aus zu operieren. Außergewöhnlich, weil aller Frieden, alles Mitleid, alle Kreativität und göttliche Energie durch uns in diese weltliche Existenz ausfließen können. Von diesem Standpunkt aus kann man das ganze Leben als außergewöhnlich, wenn auch gewöhnlich, ansehen und Freude am Leben haben, was immer auch vor sich gehen mag.
Übe mit Bedacht und viel Vergnügen dabei!
Der Guru ist in dir.