Russland heute
Zwei spirituelle Reiseberichte
Russland heute
Zwei (spirituelle) Reiseberichte
Bernd Prokop
Cover-Bild
Das Bild basiert auf den Kreml-Glocken, einem Ausschnitt der Kreml-Silhouette zur Moskwa hin. Es ist jedoch horizontal gespiegelt, um den Gegebenheiten des Titels Rechnung zu tragen. Das Titelbild steht für einen freudigen, positiven und erwartungsvollen Blick in das riesige, unbekannte Land.
„Russland heute – zwei (spirituelle) Reiseberichte«
ist der erste Band aus der Reihe FYÜ-Reiseberichte,
© 2015 FYÜ-Verlag – 91809 Wellheim
Alle Rechte vorbehalten
eBook (epub) – ISBN 978-3-942850-41-4
Audiobook – ISBN 978-3-98974-031-0
Auch im kindle und pdf-Format erhältlich:
www.fyue.de/shop
Rückmeldungen an Autor und Verlag senden Sie bitte an: verlag@fyue.de
Motto:
Annäherung bringt Berührung, Berührung bringt Verständnis, Verständnis bringt Frieden.
Vorwort
Seit Putin an der Macht ist, hat sich die Kluft zwischen dem Westen und Russland wieder stark vergrößert. Es kommt zu immer mehr Konflikten und auch zu immer größeren. Traurige Höhepunkte waren bisher der Krim-Konflikt, der Krieg in der Ukraine, die Sanktionen des Westens und das Embargo Russlands. Im Westen gibt es einerseits diejenigen, die Putin verdammen, große Gefahren heraufbeschwören, die von Russland und Putin ausgehen sollen, und an der Politik Putins kein gutes Haar lassen (zu denen ich mich eher zählte). Denen stellen sich die Putinversteher entgegen, die alles gutheißen, was in Russland geschieht, alles, was Putin macht, als gerechtfertigt ansehen und so weit gehen, der westlichen Presse Fehlinformation und russlandfeindliche Propaganda vorzuwerfen.
Obwohl ich während des Studiums Russisch lernte und auch schon zweimal in Russland war und eigentlich dem Land sehr positiv gegenüberstehe, hat doch mein Russlandbild im Laufe der Jahre stark gelitten, gerade weil ich versuchte, viele Informationen über Russland zu sammeln. Was ich über das Auftreten der Russen im Ausland – ob Spätaussiedler oder reiche Russen – und über die Verhältnisse im Land selbst erfuhr, war nicht erbaulich. Gerade das reizte mich aber, mir durch eine Reise ins Land selbst ein Bild von den Gegebenheiten zu machen.
Nachdem ich schon mehrmals eine Reise nach Russland angeplant hatte, klappt es erst 2014, auch weil ich in diesem Jahr ein spirituelles Ziel ausmachte. Der Kriya-Meister Shibendu Lahiri, den ich 2013 in Indien kennengelernt hatte (siehe Reisebeschreibung dazu), gab in Moskau und Umgebung Einweihungen und Retreats. Deshalb fuhr ich letztes und dieses Jahr ins Land, um mir die höheren Einweihungen zu holen und den Rest meines 30-Tage-Visums im Land herumzureisen. Das Tagebuch, das ich dabei führte und damals schon in ein Internet-Forum hochlud, gebe ich nun in überarbeiteter und ergänzter Form als Reisebeschreibung in Form von eBooks und ab 2025 auch als Hörbücher und in anderen Formaten heraus.
Ich wünsche allen Lesern viel Vergnügen beim Mitreisen und kann schon vorausschicken, dass ich Russland als Reiseland nur empfehlen kann.
Wellheim, 27. Oktober 2015
Bernd Prokop
Reiseroute:
https://goo.gl/photos/UKurkFuWn1chvwXT8

Inhaltsverzeichnis
Motto: 2
Vorwort 3
Fotolinks 2014 9
Fotolinks 2015 11
Russlandreise 2014 12
Do. 15. Mai 2014 – Berlin 13
Fr. 16. Mai 2014 – Die Zweifel überwunden 17
So 18. Mai 2014 – Pommern 21
Mo. 19. Mai 2014 – Danzig 25
Mi. 21. Mai 2014 – Marienburg 28
Do. 22. Mai 2014 – Masuren, Augustow 29
Fr. 23. Mai 2014 – Erster Tag in Weißrussland 32
Sa. 24. Mai 2014 – Minsk 38
So. 25. Mai 2014 – Auf nach Russland 46
Mo. 26. Mai 2014 – Smolensk 55
Di. 27. Mai 2014 – Ankunft in Moskau 58
Mi. 28. Mai 2014 – Göttliche Fügung? 62
Do. 29. Mai 14 – Die lupenreine russische Demokratie 66
Fr. 30. Mai 14 – Der Urenkel Lahiri Mahasayas erneut 73
Sa. 31. Mai 14 – Kriya-Yoga-Einweihung für 165 Russen 77
So. 1. Juni 14 – Was fruchtbar ist, allein ist wahr 84
Mo. 2. Juni 14 – Kolomenskaja 91
Di. 3. Juni 14 – Christ-Erlöser Kathedrale 94
Mi. 4. Juni 14 – Tsarytsino 97
Do. 5. Juni 14 – Stadterkundung Süd-West 102
Fr. 6. Juni 14 – Einweihungs-Seminar II 105
Sa. 7. Juni 14 – 2. Tag Einweihungsseminar II 107
So. 8. Juni 14 – Ende Einweihung II 110
Mo. 9. Juni 14 – Retreat Beginn 113
Di. 10. Juni 14 – 2. Retreat-Tag 115
Mi. 11. Juni 14 – 3. Retreat-Tag 118
Do. 12. Juni 14 – 4. Retreat-Tag 125
Fr. 13. Juni 14 – 5. – Retreat-Tag 128
Sa. 14. Juni 14 – Höhere Einweihung, Hanuman Puja 131
So. 15. Juni 14 – Ende des Retreats 136
Mo. 16. Juni 14 – Mithilfe 138
Di. 17. Juni 14 – Rinpoche kommt 140
Mi. 18. Juni 14 – Beobachtungen 143
Do. 19. Juni 14 – Beobachtungen 145
Fr. 20. Juni 14 – Retreat mit Chögyal Namkhai Norbu 148
Sa. 21. Juni 14 – 2. Tag Retreat mit Rinpoche 149
So. 22.Juni 14 – Letzter Tag im Kunsangar Nord 152
Mo. 23. Juni 14 – Moskau – Warschau 155
Di. 24. Juni 14 – Das Schicksal ereilt mich 157
Fr. 27. Juni 14 – Resümee 162
Mi. 10. Sep. 14 – Nachtrag zum Resümee 167
Zwischenspiel 168
Mi. 10. Sep. 14 – Russland heute 170
Fr. 5. Dez. 14 – Geheimsache Doping – Wie Russland seine Sieger macht 172
So. 7. Dez. 14 – Ferngeplänkel 173
Mi. 17. Dez. 14 – Geplänkel mit einer Bekannten 175
So. 4. Jan. 15 – Putin ein moderner Demagoge 186
Russlandreise 2015 188
Sa. 9. Mai 15 – Wieder Zigeuner 189
Mo. 18. Mai 15 – Start von Berlin aus 190
Di. 19. Mai 15 – Einreise nach Weißrussland 192
Mi. 20. Mai 15 – Transit durch Weißrussland 199
Do. 21. Mai 15 – Über Brjansk nach Moskau 204
Fr. 22. Mai 15 – Raitschka, Kriya 208
Sa. 23. Mai 15 – 1. Einweihungstag 212
So. 24. Mai 15 – Feierlichkeit, nördlicher Kunsangar 215
Mo 25. Mai 15 – Ankunft im Ferienlager, Retreat-Beginn 219
Di. 26. Mai 15 – Lehreinheiten, Volleyball, Mutterenergie 223
Mi. 27. Mai 15 – Sanskrit, indischer Tanz, arrangierte Ehen 227
Do. 28. Mai 15 – Exkursion, Meditationsenergie 230
Fr. 29. Mai 15 – Vorbesprechung zur Einweihung – Osho 232
Sa. 30. Mai 15 – Einweihung in Samantrak, Hanuman Puja 234
So. 31. Mai 15 – Abschied aus dem Retreat, Resümee 238
Mo. 1. Juni 15 – Nischni Nowgorod 244
Di. 2. Juni 15 – Nischni – Bib – Tanz ohne Musik 248
Mi. 3. Juni 15 – Vom Kommunismus zum Faschismus 253
Do. 4. Juni 15 – Ab heute geht’s zurück 260
Fr. 5. Juni 15 – Greenpeace, wo bist du? 262
Sa. 6. Juni 15 – Dorf-Stadt-Gegensatz — Ivanovo 268
So. 7. Juni 15 – Müll – Pavel – Volgorechenzk 273
Mo. 8. Juni 15 – Kostroma – Volgorechenzk 279
Di. 9. Juni 15 – Jaroslawl 281
Mi. 10. Juni 15 – Jaroslawl, Bemerkungen 285
Do. 11. Juni 15 – Von Rybinsk bis 300 km vor Peter 289
Fr. 12. Juni 15 – Ladogasee 295
Sa. 13. Juni 15 – Schlüsselburg 298
So. 14. Juni 15 – St. Petersburg 301
Mo. 15. Juni 15 – Petersburg bei Regen 304
Di. 16. Juni 15 – Platten, weiter Richtung Peterhof 306
Mi. 17. Juni 15 – Strelna-Schloss – Peterhof 308
Do. 18. Juni 15 – Peterhof 311
Fr. 19. Juni 15 – Abschied aus Russland 313
Tallinn – Riga – Berlin – Nachträge – Bemerkungen 315
Resümee 321
Nachtrag 2025 323
Weitere Veröffentlichungen des Verlags 326
Fotolinks 2014
Berlin – Pommern
Danzig bis Weißrussland
Weißrussland – Minsk
Smolensk – Moskau
Einweihungsseminar I
Moskau Mo und Di
Moskau Mi und Do
EinweihungsseminarII
Retreat 2014 Mo – Mi
Retreat 2014 Do – So
Mithilfe im nördlichen Kunsangar
Retreat mit Chögyal Namkhai Norbu
Heimfahrt – Brest – Grenze
Warschau – Frankfurt/Oder – Berlin
Gesamte Reise 2014
Weißrussland – Moskau
Moskau – Einweihungsseminar
Roter Platz – Kunsangar – Wladimir
Retreat Wladimir Di – Mi
Retreat Wladimir Do – So
Nischni Novgorod
Von Nischni Nowgorod Richtung Ivanovo
Dorf vor Ivanovo – Ivanovo – Volgorechenzk
Kostroma – Jaroslavl – Rybinsk
Rybinsk – Ladoga
Schlüsselburg:
St. Petersburg
Strelna – Peterhof:
Estland – Lettland – Polen
Russlandreise 2014
Das ist schon lange her, dass ich für eine Reise, bei der ich mit dem Auto unterwegs bin, lange vorbereiten musste. Doch für Russland braucht man ein Visum und, da ich durch Weißrussland fahren will, auch für dieses Land. Mit meiner üblichen Spontaneität komme ich da also nicht weit. Ich muss die Einreise- und Ausreisetage genau planen, schon alleine deshalb, weil ich mich für das 30-Tage-Visum entscheide, das über Visa-Dienst noch relativ einfach und günstig zu haben ist, obwohl mir eigentlich 30 Tage zu kurz sind.
Das Schwergewicht der Vorbereitung liegt allerdings beim Sprachenlernen. Als ich 2002 sechs Wochen durch Staaten der ehemaligen Sowjetunion reiste, hatte ich eine ziemliche Geläufigkeit im Russischen erreicht. Davon ist inzwischen vieles eingeschlafen. Gute Dienste erweist mir nun das umfangreiche Audio-Material, mit dem ich in den 80ern Russisch lernte und das ich inzwischen digitalisiert aufs Smartphone geladen habe. Das höre ich mir ab Februar bei jeder Gelegenheit an. Bald fange ich auch an, Nachrichten im Internet nur noch auf Russisch zu lesen. Am 5. Mai fahre ich von zuhause los, hole meinen Pass beim Visa-Dienst in Frankfurt ab und komme am 12. Mai nach Berlin.
Do. 15. Mai 2014 – Berlin
Da mich jemand gefragt hat, wie man nur nach Russland fahren kann und ich selbst noch nicht weiß, was daraus wird, führe ich hier wieder, wie schon vor zwei Jahren in Indien, ein lockeres Tagebuch zu meiner Reise.
Vor vielen Jahren, zur Zeit von Glasnost und Perestroika, hab ich mal eifrig Russisch gelernt, war auch schon zweimal in Russland. Einmal 1989 mit einer Reisegruppe für eine Woche in Moskau und Petersburg. Das letzte Mal 2002, als ich (ähnlich wie dieses Mal) alleine mit dem Auto um das Schwarze Meer herumfahren wollte und dann wegen des Kaukasuskonflikts die Gefahrenzone weiträumig über Kasachstan umfahren musste (an zwei verschiedenen Stellen, einmal vom Kreuzpass in Georgien aus, das andere Mal von Aserbaidschan aus versuchte ich, über die Grenze nach Russland zu kommen; die russischen Grenzer erwiesen sich jedoch als gnadenlos, obwohl ich ein Visum in der Tasche hatte). Damals, nach Abschluss meines Geschichts- und Geografiestudiums, reiste ich schließlich bei Astrachan ins Land ein, besuchte die deutsche Schicksalsstadt Wolgograd (früher Stalingrad) und reiste dann über Rostow am Don durch das ukrainische Gebiet, in dem heute gekämpft wird, zurück nach Westen.
Aufgrund der angenehmen (und auch teilweise unangenehmen) Erfahrungen, die ich 2002 gemacht hatte (über fünf Wochen reiste ich durch Gebiete ehemaliger Sowjetrepubliken, in denen ich mich überall gut auf Russisch verständigen konnte), wohnt in mir schon seit Längerem die Sehnsucht, dieses Russland wieder einmal zu besuchen, vor allem die Metropole Moskau, von der mir damals in Baku ein Student so vorgeschwärmt hatte. Daran dachte ich oft, konnte mir aber nicht vorstellen, dass Moskau entwickelter sein konnte, als eine Großstadt in einem Entwicklungsland. Der erste Hinweis auf das, was mich erwarten würde, erhielt ich bei meiner Zimmersuche für ein paar Tage in der Stadt. Im Zentrum war das Preisniveau exorbitant und ziemlich weit draußen zahlte man immer noch Preise von 40 Euro die Nacht. Das passte nicht ganz zu meiner Vorstellung. Dass aber die Stadt ziemlich entwickelt sei, konnte ich mir immer noch nicht vorstellen.
Nach mehreren Anläufen in den letzten Jahren bin ich nun auf dem besten Weg, wirklich nach Moskau und sogar noch weiter nach Osten zu gelangen.
Meine Russischkenntnisse frische ich bereits seit Monaten auf, das Visum habe ich seit letzter Woche in der Tasche (Einreise 25. Mai) und zurzeit halte ich mich in Berlin zu den letzten Vorbereitungen auf. Morgen Abend fahre ich erst mal weiter nach Stettin, denn auf der Hin- und Rückreise möchte ich auch noch ein paar interessante Reiseziele in Polen und Weißrussland abklappern, die mehr oder weniger auf der Strecke liegen und die ich so ohne großen Aufwand erledigen kann.
Ohne ein spirituelles Ziel hätte ich mich allerdings nicht überwinden können, so eine Reise auf mich zu nehmen. Die spirituelle Motivation ist einmal vorhanden, da ja Rudolf Steiner voll des Lobes für das spirituelle Potenzial des russischen Volkes ist. Als ich dann im März im Internet nach einer spirituellen Veranstaltung oder einem Pilgerort suchte, zu dem es sich rentiert hätte, hinzufahren, wurde ich nicht fündig. Kein Yoga-Festival war angesagt. Dann sah ich aber bei einer russischen Indienbekanntschaft auf Facebook, dass Shibendu Lahiri (bei dem ich zwar in Varanasi und Allahabad keine so guten Erfahrungen gemacht hatte, aber immerhin …) Anfang Juni nach Moskau kommt und dort eine Einweihung und ein Retreat abhält.
Dieser Mann ist zwar nicht berauschend, doch zumindest gehört er zur Kriya-Tradition und er vermittelt die Techniken relativ rein. Da schiele ich auch noch etwas auf die zweite Einweihung. Die Voraussetzung für diese zweite Einweihung ist, dass man die von Shibendu vermittelten Übungen der ersten Einweihung bis zu einem vorgegebenen Grad praktiziert hat. Das hab ich zwar nicht gemacht, weil sich das nicht mit meiner eigenen im Laufe der Jahre entwickelten Kriya-Yoga-Praxis verträgt. Doch wie ich in Varanasi erfahren habe, ist die andere hinreichende Voraussetzung das Beherrschen von Khechari Mudra 2 und damit wäre ich doch ein Kandidat.
Das ist also mein Ziel, da mal hinzuschaun, möglicherweise die zweite Einweihung zu erhalten, meine Russischkenntnisse aufzufrischen und zu erweitern, etwas mehr in die russische Seele einzudringen und möglichst weit nach Osten vorzustoßen, auf jeden Fall sehr viel weiter als Hitler es dazumal mit all seiner Macht geschafft hat; und dabei vielleicht noch einige heilige und auch touristische Orte zu besuchen. Eigentlich wäre ich gerne mal bis nach Nowosibirsk gefahren, doch vermutlich aufgrund des politischen Hickhacks bekommt man für Russland nur ein 30-Tage-Touristen-Visum und das ist mir wegen der Termine – 30. Mai bis 1. Juni Einweihung in Moskau und 9.-15. Juni Retreat in einem buddhistischen Retreat-Zentrum (70 km östlich von Moskau, kunsangar.ru) nicht möglich. Vielleicht komme ich aber zumindest bis nach Nischni Nowgorod oder Kasan.
Fr. 16. Mai 2014 – Die Zweifel überwunden
Diese langen Reisen mit dem Auto sind auch immer Tage der inneren Einkehr. Ich bin ja nun schon 10 Tage unterwegs. Und anfangs war das alles eher unangenehm. Die häuslichen Bequemlichkeiten aufzugeben, alle Kontakte weitgehend abzubrechen …
Bei Yoga Vidya in Bad Meinberg hab ich für ein paar Tage Freude und Lebenslust getankt und heute ist seit Tagen nicht nur der erste sonnige Tag, die Meditationserfahrung war auch sehr erhellend. Ich weiß nicht, ob das nur eine vorübergehende Einsicht ist, doch wurde mir klar, dass die Schwäche in meiner rechten Körperhälfte wohl mit keinen irdischen Mitteln zusammenhängt, dass das wohl Ausdruck meiner spirituellen Kraft in einem vergangenen Leben (oder auch meiner kompletten Existenz) sein muss, die mir in diesem Leben noch fehlt, und dass ich diese Kraft nur durch Om (diese Grundschwingung, die man hören kann und auf die Yogananda so oft hinweist, die man aber auch so leicht wieder aus dem Blickfeld verliert) in mich hineinbekomme. Om also heruntertransformieren in den physischen Körper, diese Kunst zu vervollkommnen, das ist die wirkliche Aufgabe meines Lebens und letztendlich allen Lebens.
Om ist das Höchste. Und die Herstellung eines immer besseren Kontakts zu Om stabilisiert gleichzeitig die Gefühlswelt immer mehr. Dann kommt das innere Licht, und das stabilisiert die Gedankenwelt, und dann kommt noch die Zunge aus Khechari, die zum dritten Auge strebt und irgendwie den Herzschlag kontrolliert oder beruhigt. Damit war es mir heute möglich, sehr konzentriert zu werden, ohne viele Techniken. Die Hierarchie Om – Licht – Khechari ist wichtig, Om muss immer das Erste sein und die anderen Elemente führen. Das ist ähnlich wie bei der Ober- und Unterordnung in jedem funktionierenden gesellschaftlichen Konstrukt (Familie, Gemeinde, Betrieb, Staat …). Die Om-Kraft kommt aber über diese Hierarchie nach unten in den Körper und kann da bei mir die rechtsseitige Schwäche ausgleichen, die ich seit der Geburt mitbekommen habe.
Die Zusammenhänge müssten bei jedem Menschen ähnlich sein. Denn was ist alles Streben nach Gott? Man übt sich darin, sich mehr und mehr auf die Om-Kraft zu stützen und diese zur einzigen Abhängigkeit im Leben zu machen. Mit der Om-Kraft geht es ins Unendliche weiter – alle anderen Abhängigkeiten führen früher oder später ad absurdum oder zur Selbstvernichtung …
Die Om-Kraft für sich nutzbar zu machen, braucht es Übung. Natürlich ist das ganze Leben Übung darin. Die spirituellen Yoga-Übungen sind jedoch in ihren Wirkungen um ein Vielfaches potenter als das tägliche Leben, weil sie die Aufgabe sehr viel direkter angehen. Das ist vergleichbar mit Computerprogrammen. Ein Programm kann man durch Anwendung immer besser nutzen, das hat jedoch seine Grenzen in dem, was der Programmierer vorgegeben hat. Will man grundlegende Verbesserungen oder neue Funktionen einrichten, muss man im Programmcode was ändern. In der Meditation und bei den spirituellen Übungen begeben wir uns auf Ebenen in uns selbst, auf denen wir den Programmcode für uns verändern und somit grundlegende Veränderungen in unserer Beziehung zur Om-Kraft und damit unserem Leben bewirken können.
Diese Reise war mir die letzten Tage teilweise als ziemlich idiotisch vorgekommen. Was will ich dort in Russland? Von den Informationen her, die man im Internet sammeln kann, ist da spirituell nicht viel zu holen etc. (doch solche Zweifel befallen mich ja im Anfangsstadium fast jeder Reise.).
Die heutige Meditation hat mir aber wieder gezeigt, dass meine Reisen ein wichtiger Baustein in meiner spirituellen Entwicklung sind und da ja unsere spirituelle Entwicklung das ist, was unsere eigentliche Existenzberechtigung darstellt, haben diese Reisen aufgrund der spirituellen Erfahrungen, die ich damit mache, auch ihre Berechtigung. Und wenn man das Ganze ohne die materialistische Hypnose betrachtet, in die man ja so leicht hineingerät, ist das auch das Einzige, was Berechtigung hat. Das andere, das materialistische Werkeln, ist nur unterstützendes Beiwerk.
Jeder bastelt an einem Kunstwerk und das Kunstwerk ist er selbst.
Damit ist nun der Frieden in mich eingekehrt, den ich auf diesen Reisen so liebe. Das äußere Werkeln ist nicht so wichtig: „Einfach sein“ – das Motto des diesjährigen Berliner Yoga-Festivals – und natürlich meine tägliche Yoga-Praxis, die der, die ich zu Hause absolviere, in nichts nachsteht, sind völlig ausreichend, um mich vor mir zu rechtfertigen – aber natürlich nutze ich auch meine Zeit, mich weiterzubilden und etwas zu arbeiten. Nur hat das Arbeiten nicht mehr die Priorität wie zuhause. Heute im Zeitalter des Internets und der Computer ist alles leichter miteinander in Einklang zu bringen.
So 18. Mai 2014 – Pommern
Am Freitag, den 16. Mai war ich nachmittags noch in der Charlottenburger Bibliothek und kam dort mit einer 23-jährigen Vietnamesin ins Gespräch, die mir erzählte, sie und eine ganze Gruppe von jungen Vietnamesen (an die 100, 90% Frauen) seien von einer Pflege-Organisation angeworben worden, in Deutschland Altenpfleger zu werden. Sie ist gerade sechs Monate in Deutschland, spricht kein Englisch und bereitet sich gerade auf die Prüfungen vor. Sie kommt vom Land, der Vater ist Bauer und sie ist die Älteste von drei Geschwistern. Im Altenheim hat sie mit dementen Menschen zu tun, die immer dasselbe fragen … Irgendwie sonderbar, dass Deutschland bei Millionen von Arbeitslosen und Hartz IV-Empfängern so weit ausgreifen muss, um den Bedarf an Altenpflegern zu decken …
Etwas später als geplant ging es dann abends aus Berlin heraus. Als es dunkel wurde, war ich gerade in Eberswalde und nächtigte dort. Der nächste Tag war einigermaßen sonnig und ich kam bald in meinen Reisetrott hinein, d.h. überall anzuhalten, wo es etwas Interessantes zu sehen gibt und dort eine Lesepause einzulegen. Das ist einmal beim Kloster Chorin, dann bei Schwedt an der Oder und dann noch hoch auf einem Endmoränenhügel mit weitem Blick übers Land. So kam ich dann erst gegen Abend nach Stettin, wo ich die Stadt mit dem Rad erkundete, einer Heiligen Messe beiwohnte und mich dann noch längere Zeit auf dem Turm der Jakobskirche mit schönem Blick über Stadt und Land aufhielt, denn es war schon wieder ziemlich kühl geworden. Was mir hier gleich auffällt: Als ich vor 15 und 17 Jahren das letzte Mal in Polen war, hat mich die Schönheit der Frauen überrascht. Heute sehe ich davon nichts mehr und ich vermute mal, dass das mit der damaligen misslichen wirtschaftlichen Lage und der heutigen guten zusammenhängt. Heute sind alle gut genährt, damals hatten sie wohl nur erzwungenermaßen eine gute Figur …
In der Nacht beginnt es wieder heftig zu regnen und mir scheint, als würde ich diesmal mit dem schlechten Wetter mitreisen – seit zwei Wochen gerade mal 3 sonnige Tage … Davon lass ich mich aber nicht stören und lege auf der Strecke Richtung Danzig bald einen Abstecher in ein Dorf (Bodzesin) ein. Auf dem Friedhof gibt es noch einen deutschen Grabstein. Die Vögel zwitschern sehr laut. Die Stimmen von Mensch und Tier sind hier viel prägnanter als Motorengeräusch, alles scheint um ein-zwei Gänge zurückgeschaltet und ich denke, das ist nicht nur sonntags so. Man kann sich hier auch leicht in eine vergangene Zeit hineinversetzen, kein Handy- oder Internetempfang – nur die Autos und Maschinen zeugen vom menschlichen Fortschritt. Jeder fährt hier inzwischen ein gutes Westauto und kann mit Recht auf meine alte Schese herunterblicken …
Ich lasse das Auto bei der Kirche stehen und fahre mit dem Rad noch etwas aus dem lockeren Straßendorf heraus und auch noch etwas weg von der Straße, lese und hole bei Kälte (12 Grad) und Nässe mein Arbeitspensum nach, das von gestern Abend wegen Müdigkeit noch übrig ist. Zumindest regnet es nicht mehr und der Bildschirm ist auch im Freien gut lesbar …
Was diese Reisen so erfrischend machen, sind die vielen kleinen Erlebnisse, die einen näher zur Natur bringen, schon alleine, wenn die Natur Toilette und Badezimmer ist, das ist jedes Mal ein anderes Erlebnis oder hier, wo ich gerade auf einem Findling sitze und dies schreibe, bemerke ich, wie meine Hose voller Ameisen ist …
Notgedrungen bade ich abends, nachdem ich nach Mielno (Groß Möllen) weitergefahren bin, noch in der Ostsee, um mich wieder zu waschen. Aufgrund des kalten Wassers würde ich das nie tun, wäre ich im Hotel untergebracht. Das kalte Wasser macht mir aber gar nicht so viel aus, allerdings hat der Himmel inzwischen aufgeklart. So ein Urlaub ist ein Urlaub mit meiner liebsten und treuesten Freundin, der Natur. Hat mich auch mal einer gefragt (auf der Fähre von Baku nach Aktau), ob ich alleine reise und ich hab geantwortet: „Nein, Gott ist mit mir“, und so fühle ich mich auch.
Am Strand verbringe ich auch den Abend und bleibe über Nacht in Mielno.
Mo. 19. Mai 2014 – Danzig
Die Sonne gestern Abend gab es wohl nur, um mir das Baden etwas zu versüßen. Heute schon wieder Regenwetter. Zu Hause war die Entscheidung schwierig, welches Fahrrad ich mitnehmen sollte: Mountainbike oder Klapprad. Obwohl ich mich nach dem Mountainbike-Komfort schon etwas sehne, war das Klapprad doch die bessere Wahl, denn dieses nimmt so wenig Platz ein, dass ich es immer im Auto lassen kann, und das ist aufgrund des vielen Regens sehr von Vorteil.
Als das Wetter gegen zwei besser wird, mache ich mich auf den Weg nach Danzig, zunächst halte ich jedoch Ausschau nach einer Reparaturwerkstätte, denn gestern ist mir meine Auspuffaufhängung gerissen. Ich hab zwar das Gummiersatzteil dabei, doch es selbst zu reparieren fehlt mir das Werkzeug. Der Mechaniker spricht ein wenig Deutsch und macht sich gleich mit Eifer an die Arbeit, aber so, dass ich befürchte, er macht mehr kaputt, als er repariert. Wie er es anstellt, geht es nicht, möchte ich ihm erklären. Doch er hört nicht auf mich und bringt es irgendwie hin, dass es aussieht, als sei es repariert. Ich gebe mich etwas zu vertrauensselig zufrieden und zeige mich, weil ich in Polen fast noch kein Geld ausgegeben habe, großzügig: 20 Euro für 15 Minuten Arbeit bekommt er sicher nicht oft. Leider höre ich den Auspuff bald wieder scheppern, nachdem ich vor Danzig mal schärfer um eine Kurve gefahren bin … Am nächsten Tag kaufe ich mir für ein paar Euro das nötige Werkzeug und mache es selbst. Mein Auto ist zwar schon 26 Jahre alt und der TÜV ist auch seit April abgelaufen, doch inzwischen hab ich ein ziemliches Vertrauen zum Opel Kadett“, den ich schon 22 Jahre fahre. Es kann nicht viel kaputtgehen, und wenn etwas kaputt ist, kann es meist mit relativ einfachen Mitteln repariert werden … Leider wird das wohl die letzte Reise sein mit diesem Gefährt …
Gdingen und Danzig sind eine riesige Agglomeration. Da sich die Fahrt wegen des Verkehrs doch länger als erwartet hinzieht, streiche ich kurzerhand das Ziel Gdingen und komme gegen 19 Uhr bei Sonnenschein in Danzig an, wo ich gleich neben der Altstadt einen Parkplatz finde, der sich auch für die Übernachtung eignet. Hatte Stettin teilweise noch einen recht heruntergekommenen Eindruck gemacht, ist hier so ziemlich alles toppmodern. Ein paar Baulücken sind im Bereich der Altstadt noch zu schließen, doch die Polen haben sich ganz schön hochgerappelt seit dem letzten Mal, als ich im Land war. Die prachtvolle Altstadt, die aus Ruinen wieder rekonstruiert wurde, lässt mich etwas wehmütig an den Hasardeur Hitler denken. Es war wahrscheinlich nötig, den Krug bis zur Neige zu trinken. Doch all die schönen Städte, die nur teilweise rekonstruiert wurden. Hier bildet der sehenswerte Teil der Stadt auch nur eine relativ kleine Insel im städtischen Einerlei …
Noch ein Kochrezept für einen Low-c(k)ost-Traveler: Man weiche Nudeln in beliebiger Menge in ausreichend Wasser über Nacht ein, gebe am nächsten Tag etwas Öl und ein paar salzige Erdnüsse dazu, mische je nach Gusto geschnittenes Gemüse hinein und fertig ist ein nahrhaftes Gericht. Schmeckt sehr gut, besonders, wenn man ausreichend Hunger mitbringt.
Allerdings ist es in Polen noch nicht nötig, so sparsam zu sein. Auch wenn die Preise im Super- oder Heimwerkermarkt ziemlich den deutschen Verhältnissen angeglichen sind, was dagegen auf der Straße oder in Restaurants angeboten wird, scheint noch um einiges billiger als in Deutschland zu sein.
Heute um 19:00 Uhr geht’s noch nach Marienburg, ein weiteres Ziel, das schon lange auf meiner Abschussliste steht.
Mi. 21. Mai 2014 – Marienburg
War Pommern abwechslungsreich hügelig, beginnt hinter Danzig eine glatte Ebene und darin, ganz anders, als ich mir das vorgestellt hatte, ragt an einem Fluss die riesige Anlage der Deutschordensfestung, eine Ansammlung roter Backsteinbauten, in die Höhe. Der Deutsche Orden wurde in Jerusalem von Kreuzrittern gegründet und sollte dem Schutz und der Verbreitung des Christentums im Baltikum dienen. Obwohl im Zweiten Weltkrieg auch zu 50 % zerstört, vieles also nur Rekonstruktion und teilweise noch Provisorium, ist dieses achthundert Jahre alte historische Zeugnis doch sehr beeindruckend und lädt geradezu dazu ein, sich in eine andere Zeit und Welt unter ganz verschiedenen Gesichtspunkten zu versetzen. Mit Audio-Guide und einigen Ausstellungen braucht man mindestens einen Tag, um alles gründlich zu besichtigen. Ich verlasse den Komplex um 7 Uhr abends, nehme noch ein Bad im Fluss und fahre dann weiter gegen Osten, bis es um 9 zu dunkeln beginnt.
Do. 22. Mai 2014 – Masuren, Augustow
In Ostróda (Osterode) hab ich gestern Abend den Parkplatz für die Nacht nicht sorgfältig gewählt. Es ist zwar still, doch am nächsten Tag während der Meditation merke ich, dass das Auto mitten in der Sonne steht. Ich kürze also ab und fahre schon um 8 Uhr weiter Richtung Olsztyn (Allenstein), suche mir dann aber bald etwas abseits der Straße einen ruhigen Platz im Wald, wo ich noch etwas meditiere, um dann geruhsam mit meinem Russischpensum und der Mahlzeit (heute gibt es Müsli) in den Tag zu starten.
Die große Ebene von Marienburg habe ich schon länger hinter mir gelassen und befinde mich jetzt im hügeligen und seenreichen Masuren. Hinter Olsztyn nehme ich mir den ersten See vor, der einigermaßen zugänglich ist (die touristische Erschließung scheint noch nicht so weit), stelle das Auto ab und mache mich zu einer Umrundung des 7 km langen Sees mit dem Rad auf, lege mehrmals am Ufer Lesepausen ein und bade auch gleich noch einmal. Eine herrliche Natur und niemand außer mir scheint sich dafür zu interessieren …
Von Danzig bis hier und noch weiter, das gehörte alles mal zu Ostpreußen. Die Spuren deutscher Vergangenheit sind aber kaum noch auszumachen. – Allerdings gibt es in jeder größeren Stadt Geschäfte wie Lidl, Kaufland, Obi oder Media-Markt …
Auf der Weiterfahrt am Abend nach Augustow lege ich eine etwas radikalere Bremsung ein, als ich rechts neben der Straße eine Einfriedung mit Kreuzen sehe, und steche zurück, um festzustellen, dass es sich noch um eine kleine deutsch-russische Kriegsgräberanlage aus dem Ersten Weltkrieg handelt …
Die starke Bremsung nimmt mir aber mein Auto wohl übel: Ich merke bei der Weiterfahrt, dass da etwas den Leerlauf hemmt, ein Problem, das zum ersten Mal nach der halbjährigen Standzeit während meiner Indienreise auftrat. Die Bremsbacken meines rechten Vorderrades scheinen etwas eingerostet und lösen sich nicht mehr so elastisch vom Rad (funktioniert alles über Hydraulik). Ich hatte gedacht, das Problem wäre behoben und würde sich durch das viele Fahren ohnehin geben. In Elk lege ich eine Pause ein und überzeuge mich, dass beide Reifen vorn ziemlich heiß sind und als ich auf den rechten Wasser gieße, zischt es von der Bremsscheibe her, obwohl ich fast nicht mehr gebremst hatte. Starke Bremsungen sollte ich also vermeiden. Da es in Augustow rechts immer noch zischt, hole ich den Wagenheber heraus, nehme das Rad ab und versuche die Dinge an der Bremse zu lockern. Plötzlich bewegt sich mein Wagen, weil die Standfläche nicht ganz eben ist, etwas nach vorn, der Wagenheber kippt um und mein rechtes Rad ohne Reifen kracht auf den Steinboden, dass ich schon meine, alles sei aus … und wie sollte ich mit dem Wagenheber da noch mal drunterkommen, um den Reifen wieder draufmachen zu können …
Am Ende geht’s dann aber doch, nichts ist kaputt und das Rad dreht sich wieder, ohne zu schleifen. Nur inzwischen bete ich doch ein wenig, dass dieses Auto noch die nächsten sechs-sieben Wochen durchhält. Es ist ja nicht nur Beförderungs- und Transportmittel, sondern gleichzeitig mein Hotel Opel, in dem ich so günstig übernachte … z.B. in Augustow in einem Wohngebiet unter einem Baum …
So kann ich am nächsten Morgen (23. Mai) nach der Meditation in das Stadtzentrum radeln, um zu lesen und zu schreiben und mir auch die Stadt noch etwas genauer anzusehn. Man meint ja immer, den Namen habe ich noch nie gehört, das liegt so weit im Osten ganz am Rande der Karte, was kann denn da schon los sein. Doch Augustow ist eine schmucke Kleinstadt an einem See mit vielen Bildungseinrichtungen und schnell wird mir klar, dass man sich hier wie überall auf der Welt am Gravitationspunkt der Erde fühlen kann …
Heute geht es weiter nach Weißrussland …
Ach ja, noch mal ein (veganes) Kochrezept: Eine Packung Sauerkraut gut mit Öl anrühren, Zwiebeln oder Lauch reinschneiden, etwas Wasser dazu. Zusammen mit einem guten Brot schmeckt das super …
Fr. 23. Mai 2014 – Erster Tag in Weißrussland
So ein Smartphone erleichtert die Reise schon beträchtlich. Neben den Kommunikations- und Mediafunktionen ist besonders Google Maps hilfreich. Allerdings funktioniert die Navigation nur mit Datenvolumen. Gerade zum Finden ins Zentrum einer Stadt und heraus auf die richtige Straße ist das sehr hilfreich. Früher musste man immer wieder anhalten und fragen (in Izmir und Wolgograd ist es mir schon passiert, dass ich mich stundenlang in der Stadt umsah, und merkte dann erst, dass ich noch 10 bis 20 km vom Stadtzentrum entfernt war). Jetzt reicht ein kurzer Blick auf den Standort und die umgebende Karte, um Orientierung zu schaffen. Allerdings hat mich Google Maps beim Finden des richtigen Grenzübergangs nach Weißrussland etwas hinters Licht geführt. Ich hatte mir schon gedacht, dass die Frage des Grenzübergangs auf gerader Strecke von Augustow nach Hrodna erst noch zu klären sei. Doch als mir die Navigation diese Verbindung als erste Wahl anzeigte, machte ich, ohne mich noch mal zu vergewissern, die Probe aufs Exempel – nur um kurz vor der Grenze von einem polnischen Soldaten aufgehalten, sorgsam durchsucht und dann zum Grenzübergang weiter südlich geschickt zu werden.
Dort bietet sich mir etwas, was ich schon lange nicht mehr erlebt habe – eine kilometerlange LKW-Schlange und auch eine PKW-Schlange von mehreren Hundert Metern. Ich richte mich schon auf mehrere Stunden Wartezeit ein, da hält neben mir ein Kleinwagen mit polnischem Kennzeichen, eine stämmige ältere Frau am Steuer. Sie spricht mich an, etwas mit „buistra“. Ich verstehe zuerst nicht, was sie will, dann merke ich, dass das Russisch sein könnte, und beginne mir nach mehrmaligem Nachfragen einen Reim drauf zu machen, was sie will. Wenn ich es eilig hätte, sollte ich ihr folgen, ich könne die Schlange umgehen. Natürlich will ich das und fahre ihr nach, muss mir bald aber auch sagen, dass das sicherlich keine barmherzige Samariterin war. An einem Kiosk beginnen die Verhandlungen und genaueren Erklärungen. Ich solle 50 Euro zahlen, dann könnte ich gleich bis zum Schlagbaum fahren. Im Grunde bin ich nicht abgeneigt, drücke den Preis aber noch auf 30 Euro. In 6 Tagen Polen hab ich neben Benzinkosten noch keine 70 Euro ausgegeben, da kann ich hier „für einen guten Zweck“ ruhig mal kleckern. Ich vertraue den Leuten also, einer ganzen Gang, die sich angeblich mit den Grenzbeamten abgesprochen hat, und gehe auf den Deal ein, fahre bis zum (ersten) polnischen Kontrollposten an den wartenden Autos vorbei und – werde durchgewunken …
Dann beginnt aber erst die Tortur. Auf beiden Seiten Pass und Zollkontrolle, meine ADAC-Auslandskrankenversicherung wird nicht akzeptiert (2 Euro für eine weißrussische kann man verschmerzen) und ich reihe mich aus lauter Unkenntnis in Weißrussland in die langsame Schlange für die Deklarierung von Waren ein, in der ich mich bald völlig fehl am Platz empfinde, da ich ja nichts zu verzollen habe. Doch man sagt mir, es sei schon richtig, ich führe ja mein Auto ein und müsse das deklarieren. – So etwas kannte ich bisher nur von arabischen Ländern, und das vor 14 Jahren, als ich das Mittelmeer umfahren wollte …
Am Ende, nach endlosem Formularhin- und herschieben, Ausfüllen und Abstempeln (wer liest denn das jemals noch) sind an dieser Grenze 3 Stunden draufgegangen (hätte ich die 30 Euro nicht gezahlt, hätte das Ganze wahrscheinlich noch mindestens ein bis zwei Stunden länger gedauert). Da man solche Grenztorturen in Westeuropa nicht mehr kennt, hat das Ganze einen gewissen Erlebnischarakter. Doch mir wird klar: Alleine dafür, dass die Politiker die Zollkontrollen innerhalb der EU abgeschafft haben, muss man ihnen schon dankbar sein …
Auf jeden Fall haben sich hier meine Russischkenntnisse und -vorbereitungen schon mal bewährt, das hatte ich irgendwie gefühlt, dass ich die bräuchte, und den Polnisch-Sprachkurs, den ich mir in Frankfurt gekauft hatte, lieber für die Rückfahrt aufgehoben. Leider muss ich aber auch feststellen, dass das Problem mit meinen Bremsen beileibe nicht behoben ist. Einmal schärfer gebremst und es beginnt schon wieder zu schleifen. Von nun an auf diesen oder jenen Schnappschuss oder interessanten Ort, an dem ich gerade vorbeigefahren bin, verzichten, vorausschauend fahren, den Motor zum Bremsen einsetzen … und hoffen, dass das Problem von alleine vergeht, was es insoweit tut, dass es wieder einigermaßen normal wird, wenn sich die Reifen erst mal wieder abgekühlt haben …
Um 8 Uhr abends Ortszeit (eine Stunde Zeitverschiebung) fahre ich weiter und bin nun wirklich gespannt, wie es in einem Land aussieht, wo einer was zu sagen hat und alle anderen kuschen müssen.
Ich wähle nicht die direkte Straße nach Minsk, sondern erlaube mir den kleinen Umweg durch Hrodna, und da bin ich schon etwas verblüfft über die Gegensätze. Auf der einen Seite protzige Straßen und (geschmacklose) rechteckige Klötze (die aber zumindest etwas beeindrucken) in der Stadt – auf dem Land fast ausschließlich einfache Holzhäuser. Die Dörfer haben keine Struktur, sind nur Ansammlungen von Hütten. Man sieht große, bebaute Felder, doch keine großen landwirtschaftlichen Anwesen oder Maschinen. Das Land ist äußerst dünn besiedelt …
Die gut ausgebaute Straße führt immer wieder mal ganz nah an einem „Gehöft“ vorbei (eine Hütte und ein Schuppen, ein Baum … das Ganze umzäunt), man sieht aber nicht, ob da noch jemand wohnt oder nicht.
Als es mir rund 100 km vor Minsk zu dunkel wird, fahre ich von der Schnellstraße herunter und folge einem Schild, das einen Ort in 2 km Entfernung bezeichnet. Von dieser Hauptstraße großteils westlichen Standards (nur die regelmäßigen Zebrastreifen über eine derartige autobahnähnliche Straße kommen mir neu vor) geht es unmittelbar über in eine Sandpiste durch einen Wald. Dann eine Lichtung mit Feldern und mehreren locker angeordneten einfachen Holzhäusern und Stallungen, teilweise verfallen, in zwei drei Häusern sehe ich Licht scheinen. Ich möchte gerne durchfahren und mich irgendwo im Wald dahinter, am liebsten in ein Birkenwäldchen, stellen. Doch beim Hauptweg müsste ich bald eine größere Mulde mit einer riesigen Wasserlache überqueren, deren Auskundschaftung ich mir heute Abend ersparen will. Der andere Weg, der aus dem Dorf herausführt, geht bald in einen Feldweg mit tiefen Einfurchungen von Traktoren über, wo für mich kein Weiterkommen ist. Ich gebe mich mit dem bisschen Sonnenschutz einiger Hecken für morgen früh zufrieden und unterlasse es tunlichst, mich außerhalb des Autos aufzuhalten – es wimmelt hier von Moskitos … (apropos, hier wird die Front des Autos noch zum Fliegenfriedhof, etwas, an was ich mich aus meiner Kindheit noch erinnere, was aber in Deutschland nicht mehr üblich ist). Hier, in zwei Kilometer Entfernung von der Hauptstraße ist der Hund wirklich begraben – d.h., es bellt auch nicht einmal ein Hund.
Fotolink: Danzig bis Weißrussland
Sa. 24. Mai 2014 – Minsk
Obwohl ich in Sichtweite einiger der Hütten stehe, kümmert sich am nächsten Morgen niemand um mich. Ich höre nun aber doch etwas Hundegebell, Hähne krähen auch, ein Auto scheint mal durch die große Pfütze und weiter zu fahren. Um 11 Uhr schleicht eine ältere Frau in etwas Entfernung an meinem Auto vorbei und traut sich gar nicht herzuschauen …
Es wird Zeit für einen Erkundungsspaziergang und ich stelle bald fest, dass das Dorf eine viel größere Ausdehnung hat, als ich am Vorabend noch annahm, dass aber auch sehr viele der einfachen Holzanwesen (ich schätze mal 70 %) dem Verfall preisgegeben sind. Es leben hier nur noch alte Leute, und weil Samstag ist, sind wohl noch ein paar Leute aus der Stadt zu ihrer „Datscha“ aufs Land gefahren. Kinder Fehlanzeige. Das Ganze hier ist also ein Blick in die Geschichte. Als ich zwischen den einstürzenden Balken so einer verfallenden Hütte stehe, versuche ich mir vorzustellen, welche Szenen sich hier wohl einst abgespielt haben.
Nach der Runde zu Fuß nehme ich dann noch mein Rad und fahr den Hauptweg durchs Dorf weiter aus dem Dorf hinaus (der tiefe Graben von gestern Nacht hat sich als große Pfütze erwiesen, die mehr als die Breite des Weges einnimmt), um möglichst den Wald zu erreichen. Nach dem Friedhof und 2 km kommt das nächste kleinere Dorf, wo ein noch größerer Prozentsatz der Anwesen verlassen ist. Der Weg macht dann eine Biegung und führt in ein paar Hundert Metern parallel zum Wald nach Osten … Mein Standplatz für die Nacht war also unter den Umständen die beste Wahl.
Um 13 Uhr fahre ich weiter, bin kurz nach zwei in Minsk und stehe, wie sich herausstellt, sogar mitten im Stadtzentrum; zwei freundliche Polizisten, die gerade an meinem Auto vorbeikommen, als ich noch einen kurzen Stehimbiss an meiner Kühlerhaube nehme, zeigen mir auf meiner Karte, wo ich mich befinde.
Hatte mich das, was ich bisher von dem Land gesehen habe, doch etwas bedrückt, macht das, was ich hier in Minsk zu Gesicht bekomme, doch einen recht positiven Eindruck – große Plätze, interessante Bauten, breite Straßen. Nichts, was einen umwirft, aber alles ist sauber, sogar sauberer als in einer deutschen Großstadt und in einem guten Zustand. Es gibt imposante Gebäude, große Plätze, Einkaufsgalerien, der Bahnhof ist sehr modern … Die Innenstadt habe ich in zwei Stunden mit dem Rad so ziemlich abgefahren, sie hat eine klare Struktur, nur vielleicht etwas steril – keine Straßenmusikanten, keine Fußgängerzone, kein wildes Plakatieren (deshalb hänge zumindest ich an nicht zu sehr exponierter Stelle vier Plakate zum Berliner Yoga-Festival aus), aber sonst macht das gar keinen schlechten Eindruck – einziges Manko, es gibt in der ganzen Stadt kein kostenloses Wi-Fi …
Ich bin ziemlich verschwitzt, die Hitze in der Sonne grenzt inzwischen ans Unerträgliche. Da ich auf dem Weg nach Minsk auf kein geeignetes Gewässer gestoßen war (die Wasserqualität schien auch nicht so gut), wähle ich diesmal die triviale Methode des Waschens. Gleich in der Nähe meines Parkplatzes finde ich eine stille Ecke und mache mich dort mit zwei Liter Wasser aus der Wasserflasche schön für den Abend (eigentlich sind 1,5 Liter ausreichend für eine Komplettdusche, Rasieren war aber auch mal wieder angesagt). Denn am Samstagabend sollte doch auch hier in Minsk etwas los sein …
Auf dem Weg zu einer Kirche, die ich noch nicht besucht hatte (ich war in zweien, die katholisch gewesen sein müssen), sehe ich einen Stand mit augenscheinlich köstlichem Eis und möchte mal wissen, was ich mir als frischgebackener Millionär (ein Euro entspricht 13 750 weißrussischen Rubel) von meinem Reichtum kaufen kann. Am Ende bekomme ich für einen Euro (Geld wechsle ich keins) gerade mal eine Kugel. Die wird auch noch grammgenau abgewogen und das danach folgende Hantieren mit der üppigen Menge an Geldscheinen führt dazu, dass eine Schlange mit 5 Leuten in einer gefühlten halben Stunde abgearbeitet ist. Das Eis ist dann auch noch geschmacklos – oder ist einfach alles fad im Vergleich zu dem, was ich jeden Tag aus mir selbst heraushole?
In der Kirche ist ein orthodoxer Gottesdienst im Gang. Keine Bänke, alles steht andächtig ungeordnet; der liebliche Gesang eines Chores und die ganze Mannschaft von Priestern und Mönchen stimmt dann auch noch vielstimmig ein. Der Gesang in den orthodoxen Kirchen ist ein Genuss.
Danach beobachte ich, wie Leute die vielen Bilder an den Wänden abknutschen oder zumindest Stirnkontakt etc. herstellen und übe mich auch etwas darin, ohne etwas Besonderes zu fühlen – oder hat das Eis nur die Funktion meiner spirituellen Sinnesorgane etwas beeinträchtigt?
Von der erhabenen Lage des Kirchenvorplatzes aus ist in der Ferne, jenseits einer Hauptstraße, eine kleinere Menschenmenge zu erkennen, und ich vermute, dass da was los sein könnte.
Es stellt sich dann wirklich heraus, dass da nicht nur ein bisschen was los ist. Das Gelände am Flussufer zieht sich, und da feiern schätzungsweise einige zehntausend Menschen. Denn bis zum Sportpalast, wo gerade die Eishockey-Weltmeisterschaft stattfindet, gibt es eine Fanmeile, allerdings ohne Public Viewing. Da sind Verkaufsstände, ein Jazzkonzert, Bierausschank, Tische, Stühle, viele Grüppchen sitzen einfach mit Getränken und Speisen auf der Wiese, am Flussufer, auf Steinterrassen etc. und immer wieder Sprechchöre mit „Rassia“ also Russland oder „Belorassia“ (Weißrussland). Da ist also mächtig was los und ich denke schon, Lukaschenko hin oder her, wenn diese Leute so ausgelassen feiern können, es ihnen offensichtlich gut geht und die Stadt mit vielen kleinen und großen Einzelheiten glänzt, was kann da an den politischen Zuständen falsch sein?
Ich setze mich also an einen Ort mit etwas Überblick und beginne, heute recht spät (21 Uhr), mit meinem Russischpensum. Um auch noch ein wenig zu übersetzen, suche ich mir (nachdem es zu dunkel fürs Lesen geworden ist) noch einen anderen geeigneten Platz in dem Getümmel und finde den nach einigem Suchen auf den überfüllten Uferterrassen. Hier spricht mich dann nach einiger Zeit ein neben mir sitzender, schon etwas angetrunkener und eine Zigarette nach der anderen rauchender Weißrusse an und es entwickelt sich schön langsam ein Gespräch, bei dem ich nicht alles verstehe und zuerst auch nicht alles glauben kann. Doch dieser 35-jährige Mann, geschieden, eine Tochter, mit drei Studienabschlüssen, was er genau macht, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, wird mir nicht ganz klar, versichert mir (immer wieder mit vorgehaltener Hand und darauf bedacht, dass da niemand mithöre, denn da seien so viele Spitzel und besonders weibliche, die die schlimmsten seien), dass diese Feierlichkeiten etwas ganz Außergewöhnliches in der Stadt seien, dass man sonst von der Polizei zur Rechenschaft gezogen würde, wenn man in der Öffentlichkeit Alkohol trinke, dass es solche Feierlichkeiten, wie er immer beteuert, „seit 200 Jahren“ nicht mehr gegeben hätte und diese Show anlässlich der Eishockey-Weltmeisterschaft nur aufgezogen würde, um vor den westlichen Besuchern und der Presse ein Bild der heilen Welt zu generieren, dass 90 % der Bevölkerung arm sei, dass Lukaschenko und seine korrupten Helfer eine große Öl- und Gasmafia seien, dass die orthodoxe Kirche da mit unter einer Decke stecke, dass die vielen SUVs und anderen teuren Nobelautos nur die Leute vom Lukaschenko-Klan fahren, dass er sich nach einer Veränderung, nach einer demokratischen Entwicklung sehne, dass aber die mächtigen Russen, die doch nichts hätten als ihre Bodenschätze, da kräftig mitmischten usw. … Er habe sich bei sich zu Hause die Möglichkeit geschaffen, einen unabhängigen Fernsehsender zu empfangen und wisse über alles Bescheid. Auf die Frage, ob es da mehr Leute gäbe, die so denken wie er, muss er aber zugeben, dass die meisten sich willig in ihr Schicksal fügten, oder versuchen, innerhalb des Systems vorwärtszukommen …
Am Ende vereinbaren wir, dass wir zu seiner Wohnung fahren, er mir seine subversive Einrichtung zeigt und ich bei ihm übernachte … In Deutschland oder ganz Westeuropa hätte ich das nie gemacht, mit jemandem, der Alkohol trinkt, in seine verrauchte Wohnung zu gehen, doch das alles finde ich doch zu interessant …
Wir drehen noch eine Runde durch das Getümmel. Vor der Bühne, wo nur noch Konservenmusik gespielt wird, scheint die Stimmung inzwischen den Höhepunkt erreicht zu haben …
Da ich mein Auto an richtiger Stelle geparkt habe, erlauben wir uns noch den Spaß, um 1 Uhr nachts an der Tür des höchsten Staatsgefängnisses Weißrusslands ein Plakat vom Berliner Yoga-Festival anzukleben …
Seine Bude befindet sich im zweiten Stock eines nicht allzu weit vom Stadtzentrum entfernten (rund 1000 m), ziemlich heruntergekommenen fünf- oder sechsstöckigen Wohnblocks, vergleichbar mit dem, was man in Indien als allerbilligste Quartiere angeboten bekommt.
Als ich in seine Räumlichkeiten trete, bin ich dann aber doch erstaunt. In Indien herrscht überall Kahlheit, kaum Einrichtung. Bei ihm ist die ganze Wohnung vollgestapelt mit Gerümpel, so dass gerade mal schmale Gänge bleiben, von einer Ecke zur anderen zu gelangen, von seiner Fernsehanlage (mit 40 Zoll Flachbildfernseher LG) am Ende eines Zimmers in die Küche, wo der Computer steht (leider hatte er gerade heute sein Datenvolumen ausgeschöpft, und ob das mit dem Sender wirklich stimmt, kann und will ich um diese Uhrzeit auch nicht überprüfen), zum Bett im zweiten Zimmer und zur Toilette. Nicht einmal für mich, mit meinen bescheidenen Ansprüchen, wäre es hier möglich gewesen, neben dem Bett noch irgendwo anders ausgestreckt am Boden zu schlafen …
Kein Problem, er würde in die Wohnung seiner Mutter gehen, die vor ein paar Monaten verstorben sei, und ich könnte in seinem Bett übernachten. Seine Mutter interessierte sich übrigens für östliche Religion und er glaube selbst auch, dass Jesus in Indien war und in Wirklichkeit ein Yogi gewesen sei … Er praktizierte jedoch keinen Yoga, aber ich habe ihm gleich mal eine russische Ausgabe der „Autobiographie eines Yogi“ auf seine Speicherkarte gespielt …
In einer nikotingeschwängerten Wohnung in einem viel zu weichen Bett (wo wir aber noch ein etwas breiteres Brett einschieben) zu schlafen, ist zwar nicht das Wahre, einen Yogi haut aber bekanntlich nichts um und um 3 Uhr morgens bin ich dann auch schon ausreichend müde …
So. 25. Mai 2014 – Auf nach Russland
Am nächsten Morgen um 9 Uhr nach der Meditation (wie üblich bewirkt das Nikotin, das aus allen Ecken hervorstrahlt, dass ich aufgedreht bin, nicht so lange schlafe und auch die Meditation nicht so toll wird) sehe ich mich noch etwas in den Räumlichkeiten um und warte dann, um mich nicht länger der Nikotinstrahlung aussetzen zu müssen, draußen im Hof. Dort beobachte ich, wie ein neuer Audi Q7 und ein neuer Mercedes-SUV vorfahren und ich mache mir den Reim drauf: Reiche Männer holen mit ihren großen Wägen nicht so begüterte schöne Frauen ab. Das passt auf jeden Fall zusammen, diese Protzautos in dieser heruntergekommenen Wohngegend, und das wirft meine Gedankenmaschine an:
„Russland und Gefolgsstaaten erscheinen mir als große Mafia-Organisationen, wo Gefolgschaft erkauft wird und alles, was genügend korrupt und rücksichtslos ist, mitmacht, davon profitiert, Reichtum anhäufen kann und die anderen alle arm sind. Das führt dazu, dass sich in der Gesellschaft nichts entwickelt. Es wird nach außen geprotzt, es werden Repräsentationsbauten errichtet wie hier in Minsk. Das schaut schön aus, aber es fehlt das innere Leben, es fehlt der Geist, der das alles belebt. Es ist irgendwie steril. Wenn dann eine Eishockey-Weltmeisterschaft etc. ist, dann wird den Besuchern ein offenes Land vorgetäuscht, aber in Wirklichkeit ist es eben ganz anders. Es gibt keine Entwicklung in der Bildung, es gibt keine Entwicklung im Häuserbau. Die Buden hier sind völlig heruntergekommen. Es gibt keine Isolierung. Das Gas aus Russland ist mehr oder weniger kostenlos. Die Wohnungen hier haben einen Gasanschluss zum Kochen und der kostet, wie mir Nikolai erzählt hat, 2 Euro im Monat. Es ist aber kein Zähler dran, was dazu führt, dass eben dann mit dem Kochherd geheizt wird. D.h., im Winter wird der Kochherd angelassen, dahinter stellt man einen Ventilator, der die Wärme vom Kochherd in die anderen Räume der Wohnung bläst, sodass man für die Heizung nichts zu zahlen braucht. Dieses kostenlose Gas ist es wohl auch, womit Russland die Bevölkerung, die ja aus noch größerer Armut aus der Sowjetzeit herkommt, besticht und gefügig hält. Aber insgesamt entwickelt sich nichts. Es beeinflusst die Klimaentwicklung negativ, dass hier zu viel Energie verbraucht wird. Es gibt keinerlei Anreize zum Energiesparen. Die Leute, die etwas tiefer denken können, die sich mit dem Leben hier nicht zufriedengeben, leben in Angst, Umnachtung, in Bedrückung und flüchten sich in Ersatzbefriedigungen wie Alkohol, Nikotin und Süßigkeiten.
Russland als Brutstätte der Korruption, die also allen Staaten, die mit dem Land assoziiert sind, nur Korruption vermittelt, korruptes Denken, korruptes Handeln, Gefolgschaftsdenken, und ich finde schon, dass man da keine Skrupel haben sollte, denen alle Staaten, die gehen, aus dem Machtbereich zu entreißen. Also, man sollte keine Skrupel haben, Georgien, die Ukraine und andere Staaten, die sich danach strecken – mit ihren guten Kräften zumindest – herauszukommen aus dieser Gehirnwäsche, aus dieser Abhängigkeit, aus dieser Knechtung und Entmündigung, zu unterstützen und nicht immer Angst vor Moskau haben. Das ist einfach nicht zeitgerecht und nicht gerecht den Menschen gegenüber, die hier endlich mal herauswollen aus dieser Dunkelheit, die von Russland aufgrund seines Reichtums an Bodenschätzen ausgeht. Sie können es sich leisten, können sich alle Gefolgschaft kaufen und es bleibt der Geist auf der Strecke. Denn nicht Leistung, nicht Genie wird belohnt, sondern nur korruptes Speichelecken, und deshalb fahren hier diejenigen, die ein Auto haben, in den größten Autos, SUVs. Q7 sieht man hier vorfahren vor den dreckigsten Hütten.“
Das war mein Eindruck, den ich von Russland über die Jahre gewonnen hatte und er schien sich hier erst mal zu bestätigen.
Wir hatten ausgemacht, dass ich um 12 Uhr fahren würde, würde meine Bekanntschaft vom Vortag (Nikolai, wie ich ihn genannt habe, nicht der richtige Name) bis dahin nicht eingetroffen sein. Ich hatte ihm meine E-Mail-Adresse gegeben.
Er sollte sich aber nie mehr bei mir melden …
Kleine Anmerkung noch am Rande: isolierte Häuser, alternative Energien sind in Weißrussland Fehlanzeige (in Polen gab es zumindest viele Windkraftanlagen), in der Stadt gibt es Mülltrennung, auf dem Land wird der Müll einfach in Gräben und Gruben verschüttet, was aber recht kurzsichtig zu sein scheint, weil das Wasser immer noch aus den hauseigenen Brunnen gewonnen wird …
Ich fahre also dann los, fälschlicherweise aber in Richtung Wizebsk aus der Stadt hinaus, (die Straße hieß Maskaja Uliza, oder so ähnlich, und ich hatte angenommen, das sei sicher die Straße nach Moskau …) was sich aber als gar nicht so schlecht herausstellt. Erstens kann ich da noch für 100 km eine Anhalterin mitnehmen, eine betagte Ordensfrau, die zum Kirchenbesuch (in derselben orthodoxen Kirche, die ich auch besucht hatte) in Minsk war. Sie ist Tochter eines österreichischen Soldaten (vom Zweiten Weltkrieg her), Mutter Weißrussin. Sie selbst hat eine Tochter, ihr Mann ist schon lange verstorben. Mit ihr kann ich mich zwar mangels Wortschatz nicht so ausführlich unterhalten, wie ich das gerne getan hätte. Auf jeden Fall erklärt sie mir aber, dass die Bilder in den Kirchen Ikonen seien (was ich natürlich schon vorher wusste) und dass man deshalb mit ihnen eine körperliche Verbindung herstelle, weil sie besondere Kräfte hätten, viele der Ikonen könnten Tränen vergießen oder sogar Blut schwitzen …
Sie war auch schon für längere Zeit in einem Kloster in Russland untergebracht und ich gewinne, den Eindruck: Frömmigkeit gibt es in diesem Land und das Mönchswesen hat sich inzwischen wieder sehr stark etabliert.
Immer wieder schärft sie mir ein, ich solle mich ja von den leichten Mädchen am Straßenrand fernhalten, da würden im Busch dahinter die Räuber lauern … Leichte Mädchen sehe ich in ganz Weißrussland nicht (und auch später in Russland nicht, allerdings wird in Moskau regelmäßig an die Haushalte eine Werbebroschüre mit Bildern, Telefonnummern und Metrostation von leichten Mädchen verteilt, wie ich das in dieser Art in Deutschland nur von Discountern etc. kenne) …
Zweiter Vorteil meines Umwegs ist, dass ich auf dem Weg von Lepiel nach Orscha auch mal mit einer Nebenstraße mit sehr wenig Verkehr und etwas holprigem Belag Bekanntschaft mache. Diese Nebenstraße ist aber genauso kerzengerade durchs Land geschnitten, zu den Dörfern muss man immer abzweigen. Da mache ich noch zweimal Rast. Einmal in einem Dorf (hier gibt es ein paar Kinder, die in einem kleineren Fluss mit sehr dreckigem Wasser planschen), wo mich aber gerade, als ich auf dem Autodach liegend einnicke, zwei mir nicht ganz geheure Gestalten dazu nötigen wollen, ihnen für das Parken vor einem verlassenen Bauernhaus, das angeblich ihnen gehört, Dollari für eine Flasche (wohl Wodka)) zu geben. Ich sage, sie sollten Wasser trinken wie ich, das sei besser für die Gesundheit, gebe ein paar meiner Walnüsse heraus und fahre weiter zu einem See, wo das braune Wasser trotz der Hitze aber gar nicht zum Baden einlädt. 50 km vor Orscha nehme ich noch eine Anhalterin mit, die in einem der Dörfer ihre Eltern besucht hat. Sie erzählt mir, in dem Dorf lebten noch 20 alte Menschen, sie sei dort aufgewachsen. Damals sei in dem großen Dorf viel los gewesen, mit Tanzveranstaltungen und regem gesellschaftlichem Leben. Heute verfällt alles. Die Jüngeren leben zur Miete in der Stadt … Das ohnehin nur ganz leicht besiedelte Land wird also noch mehr entsiedelt …
Als ich dann wieder auf die „Autobahn“ Minsk – Moskau komme, zeigt ein Schild „Moskau 509 km“, gerade so viel wie von meinem Zuhause in Deutschland nach Berlin.
Ich hab mich nun schon auf drei Stunden Wartezeit an der Grenze zu Russland eingerichtet, das Gleiche, was ich halt an der Grenze zu Weißrussland auch gebraucht hatte. Kurz vor der Grenze bietet eine russische Matrone die Autoversicherung an, die ich brauche, 41 Euro, um einiges teurer als vor 12 Jahren, aber gut.
Zu meiner Überraschung gibt es dann aber von weißrussischer Seite keinerlei Kontrolle, d.h., ich hätte trotz meines Transitvisums für 2 Tage auch gut noch ein paar Tage länger in Weißrussland bleiben können. An der russischen Station stehen nur zwei Soldaten und winken die meisten Fahrzeuge durch. Ich werde zwar angehalten, doch nach kurzem Blick auf das Visum darf auch ich weiterfahren.
Das lässt sich schon mal gut an …
Es geht weiter mit weiten Flächen, kaum Besiedelung oder landwirtschaftlichem Anbau, viel Urwald, wie es scheint, und ich frage mich, was hat der deutsche Soldat da zu suchen gehabt, wie wird er sich hier vorgekommen sein? Außer auf den Hauptverkehrsstraßen ist es unwegsam und war damals wohl noch viel unwegsamer als heute.
30 km vor Smolensk gibt es auch wieder Radioempfang. Mit schönen russischen Songs und der in meinen Ohren wie Musik klingenden russischen Sprache düse ich endlich wieder über russischen Boden. Russland fühlt sich erst mal sehr gut an.
Ich nehme die Ausfahrt nach Smolensk und da werde ich gleich (das erste Mal auf meiner Reise, obwohl in Polen und in Weißrussland die Straßen gespickt sind mit Polizisten, die mit ihren Geschwindigkeitsmessgeräten in der Ferne lauern. Meist wird man jedoch vom entgegenkommenden Verkehr rechtzeitig gewarnt) von einem Milizionär angehalten, Papiere, ich fahre ohne Licht, 500 Rubel „Straf“, gut, dass ich die Versicherung abgeschlossen habe, alles wird kontrolliert. Nach einigem Hin und Her, und nachdem mir der junge Mann offenbart hat, er lerne im Abendkurs deutsch oder hätte das einmal gelernt und, nachdem er auch zwei drei Worte hervorgekramt hat, lächelt er und erlässt mir die Strafe …
Smolensk, ich bin überrascht. Da geht es steil, wohl so 100 m hinunter in ein Tal und da auf der anderen Talseite erhebt sich die Altstadt mit mächtigen, zu 60% erhaltenen Stadtmauern und einer weit ins Tal scheinenden riesigen orthodoxen Kirche, umgeben von Klosteranlage. Ich stelle gleich an der Stadtmauer mein Auto ab und mache mich mit dem Rad auf Erkundungs- und Fototour. In den Reiseführern, die ich durchgeblättert hatte, hatte ich zu Smolensk nichts gefunden und mich schon gefragt, ob es sich lohne, hier überhaupt Station zu machen. Die Stadt ist aber doch sehr schön, interessant, mit vielen herrschaftlichen und stattlichen Häusern, geschichtsträchtig (in Minsk war alles Prunk und Protz, womit sich Lukaschenko eine Krone aufsetzte, wie Nikolai sagte, und keinerlei spuren einer gewachsenen Stadt zu erkennen — möglicherweise aber auch Folge der Kriegszerstörungen) und das Treiben, obwohl schon relativ spät, ist auf den öffentlichen Plätzen nicht so steril, wie in Minsk, da muss heute am Sonntag tagsüber ganz schön was los gewesen sein, Bühne und Hüpfburgen für Kinder werden gerade abgebaut … und es gibt kostenloses Wi-Fi.
Gleich in der Nähe, fast auf der Höhe des Altstadtkerns, der Universität finde ich einen schattigen Platz für mein Auto (natürlich für die Verhältnisse des nächsten Tages) und denke, hier könnte ich es länger als nur eine Nacht aushalten …



















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