Frage: Es scheint mir, dass Anhaftung an den Sinneswahrnehmungen die Hauptursache für unsere Ignoranz und unser Leiden ist. Das könnte erklären, warum „Pratyahara“ so prominent als eines der 8 Yoga-Glieder aufgelistet ist. Doch unter den Yoga Übungen scheint nur sehr wenig direkt auf dieses Feld zu fokussieren. Deshalb überlege ich, ob Pratyahara nicht das vergessene Glied des Yoga ist. Was meinst du dazu?
Antwort: Pratyahara, das fünfte Yoga-Glied wird gewöhnlicherweise so übersetzt, dass es „Rücknahme der Anhaftung an sinnliche Wahrnehmungen“ bedeutet. Man kann das auf zwei Weisen betrachten.
Einmal als allmähliche Entwicklung der Aufmerksamkeit hin zu einem feineren Reich der Erfahrung, in dem sinnliche Wahrnehmungen ekstatischer werden und auf natürliche Weise getränkt mit reinem Glückseligkeitsbewusstsein. In diesem Fall ist der Prozess von Pratyahara ein natürliches Beiprodukt der aufkommenden bleibenden inneren Stille und ekstatischen Leitfähigkeit.
Ein zweiter Weg, auf Pratyahara zu blicken, ist der, Pratyahara als einen Aspekt der Selbst-Analyse zu betrachten. Damit gelingt es, den Griff des identifizierten Bewusstseins auf alle Objekte der Wahrnehmung (mitsamt der Gedanken, Gefühle und sinnlichen Erfahrungen, die das Bewusstsein registriert) zu lösen. Diese zweite Sichtweise auf Pratyahara ist verbreiteter. Denn die Psychologie davon ist scheinbar direkter, der Verstand rastet darin ein. Unglücklicherweise ist es bei der Psychologie von Pratyahara wie bei der Psychologie einer vorzeitigen Selbst-Analyse: Wenn man nicht zuvor die bleibende innere Stille (den Zeugen) kultiviert, gilt das, was wir in früheren Lektionen im Zusammenhang mit nicht-beziehungsvoll (nicht in der Stille) beschrieben haben und man neigt auch hier dazu, mentale Luftschlösser zu bauen.
All die Glieder des Yoga stehen miteinander in Verbindung und die Reihenfolge, in der wir sie angehen, kann für die Art, wie die Verbindungen zustande kommen und auch wie effektiv jede Übung jeweils wird, einen großen Unterschied ausmachen. Weiß man das und sammelt man direkte Erfahrung mit Pratyahara in selbst-abgestimmter Übung, kann man durch Pratyahara zu einer viel klareren Konzentration kommen. Dann ist es nicht wie ein „vergessenes Glied“, sondern wie ein Treffpunkt der inneren Stille mit der ekstatischen Leitfähigkeit. Sobald diese zwei Säulen der Erleuchtung im täglichen Leben miteinander verschmelzen, kommt es zu einer beschleunigten Vorwärtsbewegung.
Die Herangehensweise der Fortgeschrittenen Yoga Übungen an Pratyahara gewinnt durch unsere Definition von Pratyahara ihre Besonderheit. Wir definieren es zunächst als ein „Nach-innen-Kehren der sinnlichen Wahrnehmung“ (vgl. dazu die Lektion 149). Geht man schrittweise an die Transformation der sinnlichen Wahrnehmung und unsere Beziehung an diese heran, anstatt zu versuchen, uns davon augenblicklich abzutrennen (zurückzuziehen), ist das eine weitaus fruchtbarere Herangehensweise an Pratyahara. Die Grundsteine dieser Verfeinerung der sinnlichen Wahrnehmung legen wir bereits mit der tiefen Meditation und der Wirbelsäulenatmung. Gehen wir dann später weiter zu Samyama, den Mudras, Bandhas und anderen Methoden, mit denen wir das Aufkommen innerer Stille und ekstatischer Leitfähigkeit befördern, stellen wir fest, dass sich unsere ekstatische Leitfähigkeit entsprechend verfeinert. Werden wir zum unbeweglichen Zeugen, während wir gleichzeitig sinnliche Erfahrungen als ekstatisch (ein Kundalini-Aspekt) kennenlernen, merken wir, dass wir auf natürliche Weise mehr dazu neigen, uns mit „beziehungsvoller“ (in der Stille erfolgender) Selbst-Analyse beschäftigen. Das ist der Punkt, an dem die „Entwöhnung der Anhaftung an sinnliche Wahrnehmungen“ ins Spiel kommt und wir spürbare Zugkraft jenseits der Vorstellungen des Verstandes erhalten. In einem praktischen Ansatz wie diesem besitzt Pratyahara zwei Stufen:
• Die Verfeinerung (Introversion) der sinnlichen Wahrnehmung durch die neurologischen Prozesse des Yoga.
• Das Transzendieren der sinnlichen Wahrnehmung (die Entwöhnung von der Anhaftung) durch beziehungsvolle Selbst-Analyse.
Wie wir in früheren Lektionen diskutiert haben, hängt eine effektive Selbst-Analyse und das damit einhergehende Pratyahara von der Kultivierung bleibender innerer Stille und ekstatischer Leitfähigkeit in unseren sitzenden Kernübungen ab. Diese sind auch ausgesprochen eng mit unserer Bhakti und der kultivierten Gewohnheit von Samyama (der Fähigkeit unsere Absichten und Analysen der Stille hinzugeben) verflochten. Deshalb treffen bei Pratyahara all diese Aspekte unserer Entfaltung aufeinander.
In der Stille gelingt es uns, jenseits aller Anhaftungen zu gelangen, besonders wenn wir auf natürliche Weise die Stille in Form eines anhaltenden Ausfließens göttlicher Liebe wieder in unsere alltäglichen Aktivitäten zurückintegrieren. Das ist ein Leben, das man als Stille im Handeln lebt, die Erfüllung aller Pfade spirituellen Übens. Eine effektive selbstbestimmte Integration der Schlüsselelemente von Übung macht den großen Unterschied aus.
Der Guru ist in dir.