Lektion 339 – Dein gewähltes Ideal

Traditionell betrachtet man Bhakti als die Liebe zu Gott, und damit ist das gewöhnlicherweise etwas, das in das Reich der Religionen gehört. Das ist gut und schön, doch Bhakti hat noch eine andere Seite, die nicht notwendigerweise religiös ist. Denn Bhakti kann man auch spirituell betrachten, ohne dass man das mit irgendeiner Religion in Verbindung bringt.

Es gibt viele Formen von Bhakti, genauso viele wie gewählte Ideale und Attribute, die man sich vorstellen kann – also unendlich viele. Hier wollen wir uns nicht so sehr über die wohl bekannten traditionellen Ausdrucksformen von Bhakti auslassen. Dies ist die Domäne der Religionen. Für jene, die es lieben, in ihrer religiösen Tradition anzubeten, ist das sehr gut. Für jene, die nicht so gepolt sind, bleibt Bhakti dennoch eine Option. Yoga und spirituelle Entwicklung kann sehr gut mit den traditionellen Anbetungsformen vorankommen – oder auch ohne sie. Es funktioniert auf entweder dem einen oder dem anderen Weg oder auch auf beiden Wegen gemeinsam.

Ein gerichtetes Verlangen ist der wesentliche Bestandteil aller spirituellen Übungsformen. Es ist Bhakti, die uns jeden Tag zu unserem Meditationssitz bringt. Dann favorisieren wir die Vorgehensweise unserer jeweiligen Übung locker und leicht. Die täglichen Yoga-Übungen sind so entworfen, dass sie uns mit der Zeit stetig öffnen. Dann haben wir ein sich ständig reinigendes und öffnendes Nervensystem, einen wachsenden Wunsch nach Wahrheit und Erleuchtung und wir sehnen uns immer, zur nächsten Ebene der Entfaltung zu gelangen.

Unser immer weiter sich entwickelndes gewähltes Ideal ist das, was dafür sorgt, dass dieser Prozess immer höhere Ebenen erreicht.

Während wir uns bewusst sind, dass sich ein Verlangen in Handlungen ummünzt, wissen wir genauso gut, dass ein Verlangen, das man ohne die Vorteile einer zugrundeliegenden Vision sich selbst überlässt, uns in ganz verschiedene Richtungen ziehen wird – und das gleichzeitig. Unsere Emotionen sind ein potenter Kraftstoff, doch stellt man keine verlässlichen Kanäle bereit, damit sie sich mit Hilfe von Wünschen ausdrücken können, wird nicht viel Gutes daraus entspringen. Auch unser Verstand spielt dabei eine Rolle, weil es unsere sich als Wünsche ausdrückenden Gefühle sind, die den Verstand anregen. Von dort geht es weiter zum Handeln. Am Anfang steht also die Art, wie wir unsere Gefühle ausrichten. Es geht darum, was wir mit unserer emotionalen Energie unterstützen. Das Verlangen/der Wunsch sucht immer nach mehr und wir sind gefordert, dieses Mehr in Form einer inspirierten Vision, d.h. unser von uns auserwähltes Ideal, bereitzustellen.

Wir haben das Wort »Vision« verwendet um den Kanal zu kennzeichnen, über den Verlangen zur Handlung führen kann. Dies impliziert, dass man das Verlangen durch eine fixierte Linse fokussieren kann. Obwohl das theoretisch möglich ist, besonders bei weltlichen Bestrebungen, ist es eine zu große Vereinfachung, wenn wir das viel breitere Feld der menschlichen spirituellen Transformation ins Auge fassen. In diesem Fall sind wir nicht auf der Suche nach einem bestimmten materiellen Ergebnis, sondern nach der Reinigung und Öffnung des menschlichen Nervensystems, damit sein Potential voll zum Ausdruck kommt.

Bei der Betrachtung einer systematischen Herangehensweise an Bhakti, d.h der Kultivierung unendlichen Verlangens zum Zweck der spirituellen Erkenntnis, liefert das Konzept des »gewählten Ideals« die notwendige Flexibilität. Das Sanskrit-Wort »Ishta« bedeutet gewähltes Ideal und bietet die Bandbreite von Ausdrucksweisen, die wir brauchen, um das Kontinuum von Bhakti von unserem jetzigen Bewusstseinszustand bis hin zu den höchsten Errungenschaften unserer Hingabe zu bereisen. Das daraus resultierende Ausströmen göttlicher Liebe kommt aus unserem Inneren und führt zur Befreiung in allen Aspekten des Lebens.

Was meinen wir mit „gewähltes Ideal“? Unsere wohlgesinnten religiösen Institutionen interpretieren das wahrscheinlich so, dass darunter der Gott oder das Ideal der betreffenden Religion zu verstehen ist: Jesus, Krishna, Buddha, Allah usw. Damit kannst du dich auch zufriedengeben, falls das das ist, was in deinem Herzen einen Resonanzboden findet. Doch unser gewähltes Ideal kann genauso in anderen Formen auftreten.

Es kann sich auch hinter einem hingebungsvollen Fragen in der Form von: »Wer bin ich und was mache ich hier?«, oder die einfache Frage: »Gibt es da noch mehr als das, was für mich jetzt Leben ist?«, verbergen.

Auch eine Affirmation wie: »Ich werde die Wahrheit wissen und die Wahrheit wird mich befreien«, kann unser Ishta sein.

Es kann genauso ein Ideal der Unterscheidung sein wie: »Das ist wahr und das ist nicht wahr.«

Und so weiter …

Ein gewähltes Ideal haben wir selbst ausgewählt und nicht irgendjemand anders. Das ist etwas ganz Persönliches. Es kann eine Verschmelzung aus Idealen sein, so wie die Galionsfiguren und Ideale unserer Religion vermengt mit tiefen Fragen, Affirmationen und Unterscheidung. Und wir werden diese durchs Leben tragen, auch wenn sich unser Ideal aufgrund der inneren Reinigung und Öffnung verbunden mit dem anhaltenden Prozess der menschlichen spirituellen Transformation ständig ausweitet.

Individualität spielt bei unserem gewählten Ideal eine Rolle. Jene, die von Natur aus demonstrativ hingebungsvoll sind, mögen zu äußerlichen Formen der Hingabe wie anbetungsvolles Verhalten, Singen, spirituellem Tanz usw. hinneigen. Andere, die vielleicht mehr analytisch sind, mögen die Introspektion in der Stille, Selbst-Analyse und andere weniger sichtbare hingebungsvolle Handlungen vorziehen.

Für welches Ishta wir uns auch immer entscheiden, Hingabe spielt mit herein, sobald wir ernsthaft den Weg verfolgen, den wir eingeschlagen haben. Steigert sich unsere entschlossene Selbstverpflichtung, entwickelt sich auch unser Ideal mit und verändert sich mit der Zeit, weil unsere Einsicht in die wahren Zusammenhänge zunimmt. Je klarer wir erkennen, was da aus unserem Inneren hervorkommt, desto konkreter wird es und unser Ideal entwickelt sich weiter hin zu zunehmend fortgeschrittenen Stadien.

Bevor es zu den Öffnungen kommt, kann eine Tendenz zu einem eingeschränkten Verständnis des gewählten Ideals vorherrschen. Dies trifft auf jeden Fall auf die meisten Religionen zu, in denen uns häufig das Ideal vorgesetzt wird, ohne dass wir darauf eine Einflussmöglichkeit haben. Die Inflexibilität in Bezug auf das gewählte Ideal kann auch vom jeweiligen Menschen selbst ausgehen. So kann ein und dieselbe Ikone für den einen Sinnbild sein für eine fixe Vorstellung, für jemand anders eine stetige Ausdehnung von inneren Erfahrungen erleichtern. Spirituelle Übungen wie die tiefe Meditation und das Pranayama der Wirbelsäulenatmung lösen die Steifheit, die in unserer Beziehung zu einem gewählten Ideal auftreten mag, auf. Dann kann es zu einer allmählichen Veränderung bei unserer Beziehung zu unserem gewählten Ideal kommen, wie es die Ausdehnung der inneren Bewusstheit erfordert, sobald sich mehr innere Stille in die Ausdrucksweisen unseres alltäglichen Lebens bewegt.

Vertieft sich unsere innere Stille, vertieft sich aufgrund eines ständigen aus dem Inneren kommenden sanften Zuspruchs auch unsere Beziehung zu unserem Ishta. Das ist wie mit den Kleidern, die wir trugen, als wir heranwuchsen. Je größer wir werden, desto größer müssen auch unsere Kleider sein. Bei unserem Ishta geht es genauso zu, nur ist die Möglichkeit der Ausdehnung unendlich viel größer. Je weiter wir sehen können, desto weiter greift auch unser seherischer Blick über das hinaus, was uns vorher begrenzt hat. Wir mögen mit einem Kultobjekt begonnen haben, das uns unsere Religion oder andere nahelegten und das uns von innen ausfüllte. Am Ende sehen wir vielleicht, dass unser Ishta die gesamte Menschheit umfasst und darüber hinaus bis zum gesamten Universum geht. Je größer unser Geist wird, desto mehr werden wir erfüllt und desto größer wird auch unser Ishta, auch wenn das Sinnbild dafür immer noch dasselbe kleine Abbild auf dem Altar unserer Hingabe ist, ob es sich dabei um ein materielles Bild oder ein nicht-physisches Ishta in unserem Herzen handelt. All das kann es sein.

Unser Ishta muss gar nicht starr und fest sein. Es ist in der Tat gut, wenn wir uns die Flexibilität erlauben, unser Ideal als sich ständig ausdehnend anzusehen, auch wenn es immer noch durch einen relativ feststehenden Gegenstand oder eine Idee repräsentiert wird. Die Ausdehnung ist etwas Natürliches, wenn wir auf unserem spirituellen Pfad weitergehen. Die Ausdehnung unseres Ishta wird durch eine sanfte Favorisierung unseres gewählten Ideals und auch durch die Übungen, zu denen wir inspiriert werden, erleichtert. Das ist viel besser, als sich streng auf das Ishta oder Hilfsmittel zu konzentrieren. Der größte Fortschritt entspringt einem wiederholten Favorisieren und Loslassen, Favorisieren und Loslassen.

Es gibt dabei ein Paradox, das darin besteht, dass der Yoga-Pfad letztendlich ein Pfad des Loslassens, des Geschehenlassens ist. Das Tun des Yoga ist ein Ungeschehenmachen. Wenn das Loslassen in den göttlichen Fluss zum Ideal wird, löst sich das Ideal selbst auf. Dazu kommt es, wenn wir selbst zum Gegenstand geworden sind. Dies ist der Zustand der bleibenden inneren Stille, der ekstatischen Glückseligkeit und ausströmender göttlicher Liebe in Einheit. Das ist Erleuchtung. Wir erreichen diesen Zustand, indem wir über lange Zeit Übungen machen und die Fülle des Lebens ausschöpfen. In diesem Loslassen gibt es also viel zu tun. Man bezeichnet das auch als »aktive Hingabe«.

Hier einige allgemeingültige Stufen, die sich einstellen und uns bewusst werden können, wenn sich unser Ideal aufgrund des Bhakti-Prozesses und der Yoga-Übungen mit der Zeit entwickelt:

• Inspiration und Fragen, die unser Ideal formen.
• Umlenkung unserer Energien des Angezogen- und Abgestoßenseins.
• Hinzunahme von Übungen für die Reinigung und Öffnung
• Ausweitung von Stille und der Anstieg von Ekstase
• Verfeinerung der Wahrnehmung von göttlichen Erfahrungen
• Hingabe an die Neurobiologische Transformation (Kundalini).
• Der innere Prozess selbst wird zum Ideal
• Das Ideal weitet sich aus und bezieht auch andere mit ein
• Dienst wird immer mehr zu einem Ideal – ausströmende göttliche Liebe (aktive Hingabe).
• Alles ist Ishta – Einheit – Stille im Handeln auf dem Gebiet der Einheit

Die einzelnen Stufen der Entwicklung können sich überlappen und wir erfahren vielleicht nicht jede einzelne klar voneinander unterschieden. Die Entwicklung unseres gewählten Ideals ist ein Prozess, der eine Folge von innerer Reinigung und Öffnung ist. Er läuft einzigartig auf unsere eigene Natur abgestimmt ab und wird auch stark von unserer Bhakti und den von uns praktizierten Übungen beeinflusst. Trotzdem werden die Stadien bei der Heranbildung des Ishta mehr oder weniger entlang der oben skizzierten Linien ablaufen: Es beginnt also damit, dass wir uns ein Ideal formen, das abgeleitet ist von dem, was uns inspiriert. Dann werden die aufkommenden Erfahrungen in uns und um uns herum mit der Zeit immer greifbarer, was keinen Zweifel darüber lässt, dass starke evolutionäre Kräfte in uns am Werk sind. Weiten wir uns aus dem Inneren heraus aus, weiten sich auch unsere Ideale. Gleichzeitig werden sie für uns auch auf jede Weise realer.

Ein Kultobjekt, das uns inspiriert oder eine einfache Frage wie »Wer bin ich?«, die man mit viel Gefühl stellt, können also zu Hingabe an ein hohes spirituelles Ideal führen, zu vielen Yoga-Übungen, zu einem friedvolleren und kreativen Leben und letztendlich zur direkten Wahrnehmung des göttlichen Flusses, wie er sich in uns und um uns herum bewegt. Das alles endet damit, dass wir das Göttliche als unser eigenes Selbst in allem erkennen, dem wir begegnen können. Dann wird dies zu einem Leben des persönlichen Selbst, das sich dem geheiligten Dienst am göttlichen SELBST widmet. Dies ist eine nicht endende göttliche Liebesgeschichte, die sich in uns und um uns herum ereignet!

Unser Ishta entwickelt sich von einer einfachen Inspiration und Sehnsucht nach der Wahrheit zum vollkommenen Ausdruck der im täglichen Leben verwirklichten Wahrheit. Das Ideal weitet sich dabei ständig aus. Die ganze Zeit können wir es mit demselben Ishta zu tun haben, mit dem wir begonnen haben, das sich jedoch im Einklang mit unserer nicht endenden inneren Ausdehnung ebenfalls in seiner Form ständig weiter entfaltet. Aufgrund unserer spirituellen Evolution und der Ausweitung unserer Sichtweise auf die Welt, gehen wir über die Fessel der kreisenden Gegensätze hinaus, um zur Vereinigung der Stille im Handeln zu gelangen. Dann sind unser Ishta und unsere Reise EINS geworden.

Der Guru ist in dir.

Über den Autor

Yogani ist ein anonymer US Amerikaner, der 2003 begann, im Internet sein spirituelles Wissen in Form von Lektionen zu veröffentlichen und damit auf einen großen Kreis Interessierter weltweit traf. Im Laufe der Jahre entstand Daraus eine umfassende Bibliothek zu allen Aspekten des Yoga. Inzwischen gibt es viele Übersetzungen in andere Sprachen. Die Lektionen sind immer noch kostenlos abrufbar. Heute gibt es auch Bücher, Hörbücher, Ebooks und im Englischen eine PLus-Mitgliedschaft sowie ein gut besuchtes Forum.

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