Kapitel 1 – Meine Eltern und die ersten Lebensjahre

Kapitel 1 – Meine Eltern und die ersten Lebensjahre

DIE BESONDEREN KENNZEICHEN der indischen Kultur sind von alters her: eine Suche nach den letzen Wahrheiten und die damit einhergehende Beziehung zwischen Guru1 und Schüler. Mein eigener Weg führte mich zu

einem christusgleichen Weisen, dessen bewundernswertes Leben für alle Zeiten zum Vorbild gemeißelt wurde. Er war einer der großen Meister – der einzige noch verbliebene Reichtum Indiens. Durch ihr Auftauchen in allen Generationen haben sie ihr Land vor dem Schicksal Babylons und Ägyptens bewahrt.

Meine frühesten Erinnerungen beziehen sich auf anachronistische Besonderheiten einer früheren Inkarnation. Unmissverständliche Bilder eines fernen Lebens als Yogi2 mitten im Schnee des Himalajas stiegen in mir auf. Diese Einblicke in die Vergangenheit gewährten mir mittels eines Mechanismus der dimensionslosen Koppelung auch Ausblicke auf die Zukunft.

Die hilflosen Demütigungen des Säuglingsalters sind aus meinem Bewusstsein nicht gelöscht. Verärgert war ich mir bewusst, dass ich nicht laufen oder mich nicht frei ausdrücken konnte. Mit der Erkenntnis meiner körperlichen Machtlosigkeit überkamen mich gebetsträchtige Aufwallungen. Meine starkes Emotionalleben prägte sich still in Worten aus vielen Sprachen aus. In dieser inneren Verwirrung verschiedener Sprachen gewöhnte sich mein Ohr allmählich an die mich umgebenden bengalischen Silben meines Volkes. Welche betörende Bandbreite doch die Verstandeskraft eines kleinen Kindes ausleuchtet! während die Erwachsenen meinen, sie beschränke sich auf Spielsachen und die eigenen Zehen.

Psychologische Gärstoffe und mein teilnahmsloser Körper veranlassten mich zu vielen widerspenstigen Schreianfällen. Gut erinnere ich mich noch an die allgemeine Fassungslosigkeit meiner Familie aufgrund meines Leidens. Aber auch glücklichere Momente drängen sich mir auf: die Liebkosungen meiner Mutter, meine ersten Versuche  Sätze zu formulieren und schwankend zu gehen. Diese frühen Triumphe, die gewöhnlich schnell vergessen werden, sind in Wirklichkeit eine natürliche Grundlage für die Ausbildung von Selbstvertrauen.

Meine weit reichenden Erinnerungen sind nicht einheitlich. Von vielen Yogis ist bekannt, dass sie ihr Selbstbewusstsein ohne Unterbrechung durch die dramatischen Übergänge vom „Leben“ zum „Tode“ und umgekehrt beibehalten haben. Wäre der Mensch nur ein physischer Körper, würde sein Verlust der Identität wirklich den letzen Punkt setzen. Wenn aber die Propheten die Jahrtausende hindurch Wahrheit sprachen, ist das Wesen des Menschen nicht körperlicher Natur. Der unzerstörbare Kern des menschlichen „Ich“ ist nur vorübergehend mit den Sinneswahrnehmungen des Körpers verbunden.

Auch wenn das merkwürdig erscheinen mag, ist die klare Rückbesinnung auf die frühe Kindheit nichts so sehr Außergewöhnliches. Während meiner Reisen durch viele Länder habe ich an Lippen wahrheitsliebender Männer und Frauen frühen Kindheitserinnerungen  gelauscht.

Ich wurde im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts geboren und verbrachte meine ersten acht Jahre in Gorakhpur. Das war auch mein Geburtsort in den vereinigten Provinzen Nord-Ost-Indiens. Wir waren acht Kinder: vier Jungen und vier Mädchen. Ich, Mukunda Lal Ghosh3, war der zweite Sohn und das vierte Kind.

Vater und Mutter waren Bengalen und gehörten zur Kaste der Kshatriyas4. Beide waren durch eine heiligengleiche Natur gesegnet. Ihre gegenseitige Liebe war fried- und würdevoll und wurde nie leichtfertig zum Ausdruck gebracht. Eine vollkommene Harmonie zwischen den Eltern war das ruhende Zentrum für den anhaltenden Tumult acht junger Leben.

Mein Vater, Bhagabati Charan Ghosh, war freundlich, ernst und manchmal streng. Wir Kinder liebten ihn sehr, hielten aber immer einen gewissen ehrfurchtsvollen Abstand. Als hervorragender Mathematiker und Logiker ließ er sich vor allem von seinem Intellekt leiten. Doch unsere Mutter war eine Königin der Herzen und erzog uns ausschließlich durch Liebe. Nach ihrem Tod zeigte unser Vater mehr von seiner inneren Zärtlichkeit. Ich bemerkte dann auch, dass sich sein Blick oft in den meiner Mutter verwandelte.

In der Gegenwart unserer Mutter machten wir die erste bitter-süße Bekanntschaft mit den heiligen Schriften. Passende Geschichten  aus der MAHABHARATA und dem RAMAYANA5 brachte sie bei jeder Gelegenheit vor, wenn es notwendig war, uns zu disziplinieren. Unterweisung und Tadel gingen so Hand in Hand.

Täglich zollte Mutter unserem Vater Respekt, indem sie uns sorgfältig jeden Nachmittag sauber ankleidete, um ihn zu Hause willkommen zu heißen. Seine Stellung war vergleichbar mit der des Vize-Präsidenten der Bengal-Nagpur Eisenbahn, einer von Indiens großen Unternehmen. Seine Arbeit brachte viel Reisetätigkeit mit sich und so wohnten wir während meiner Kindheit auch in verschiedenen Städten.

Unsere Mutter hatte ein offenes Herz für die Armen. Unser Vater war ebenfalls gütig. Aber sein Sinn für Recht und Ordnung bezog sich auch auf das Haushaltsgeld. Einmal gab unsere Mutter in 14 Tagen mehr für die Bedürftigen aus, als Vater in einem Monat verdiente.

„Alles, um was ich dich bitte, ist, dass du deine Wohltätigkeit in wohlbedachten Grenzen hälst.“ Selbst ein milder Tadel von ihrem Ehemann belastete unsere Mutter sehr. Sie bestellte eine Droschke, ohne dass sie den Kindern irgend etwas von dem Zwist erkennen ließ.

„Leb wohl, ich werde in das Haus meiner Mutter zurückkehren.“ Dieses uralte Ultimatum!

Wir brachen vor Schrecken in Klagen aus. Zufällig traf unser Onkel mütterlicherseits ein; er flüsterte unserem Vater irgendeinen weisen Rat aus der Schatztruhe jahrhundertealter Erfahrung zu. Nachdem unser Vater einige besänftigende Bemerkungen gemacht hatte, schickte unsere Mutter das Gefährt glücklich wieder fort. So endete die einzige Auseinandersetzung, die ich je zwischen meinen Eltern bemerkt habe. Doch ich erinnere mich noch an die üblichen Diskussionen:

„Gib mir bitte 10 Rupien für eine unglückliche Frau, die gerade eben zu unserem Haus gekommen ist.“ Das Lächeln meiner Mutter hatte ihre eigene Überzeugungskraft.

„Warum zehn Rupien? Einer ist genug.“ Vater fügte eine Rechtfertigung hinzu: „Als mein Vater und meine Großeltern plötzlich starben, machte ich die ersten Erfahrungen mit meiner eigenen Armut. Mein einziges Frühstück, bevor ich mehrere Meilen zur Schule gehen musste, war eine Banane. Später, als ich auf die Universität ging, war ich in solcher Not, dass ich einen reichen Richter um eine Rupie pro Monat anging. Er lehnte mit der Begründung ab, dass sogar eine Rupie sehr wichtig sei.“

„Mit wie viel Bitterkeit du dich an diese versagte Rupie erinnerst!“ Das Herz unserer Mutter besaß eine Logik des Augenblicks: „Willst du, dass diese Frau sich ebenfalls an die leidvolle Verweigerung von zehn Rupien, die sie dringend benötigt, erinnert?“

„Du hast gewonnen!“ Mit der undenklich alten Geste des besiegten Ehemanns öffnete er seine Geldbörse. „Hier hast du einen Zehnrupienschein. Gib ihn ihr mit meinem Segen.

Unser Vater lehnte in der Regel alle neuen Vorschläge zunächst ab. Seine Haltung gegenüber der fremden Frau, die Mutters Sympathie so leicht gewonnen hatte, war ein Beispiel für seine übliche Vorsicht. Die Ablehnung eines sofortigen Zugeständnisses, das im Westen typische für die Franzosen ist, dient in Wirklichkeit nur dem Prinzip des „ruhigen Überdenkens.“ Ich habe Vater immer vernünftig und ausgeglichen in seinen Urteilen gesehen. Wenn ich meine zahlreichen Bitten mit einem oder zwei guten Argumenten untermauerte, stellte er mir die Begehrlichkeiten ausnahmslos in Aussicht, ob es sich um ein Ferienreise oder ein neues Motorrad handelte.

MEIN VATER siehe Beitragsbild
Bhagabati Charan Ghosh
Ein Schüler Lahiri Mahasayas

Vater legte bei seinen Kindern schon im frühen Alter Wert auf eiserne Disziplin, doch seine Haltung sich  selbst gegenüber war  im wahrsten Sinne des Wortes spartanisch. Niemals ging er z.B. ins Theater, sondern suchte sich durch verschiedene spirituelle Übungen und dem Lesen in der Bhagavad Gita6Er mied allen Luxus und begnügte sich mit einem alten Paar Schuhe, bis sie unbrauchbar geworden waren.

Seine Söhne kauften sich Autos, nachdem sie in allgemeinen  Gebrauch gekommen waren. Vater war aber immer mit der Straßenbahn für seine täglichen Fahrten zur Arbeit zufrieden. Seiner Natur war es fremd  Geld anzuhäufen, um damit mehr Macht ausüben zu können. Einmal, nachdem er die Calcutta Urban Bank (Kommunalbank) aufgebaut hatte, weigerte er sich, durch  das Halten eigener Aktien selbst davon zu profitieren.  Es ging ihm  nur darum in seiner freien Zeit eine  bürgerliche Pflicht zu erfüllen.

Einige Jahre nachdem Vater in Pension gegangen war, kam ein englischer Rechnungsprüfer und untersuchte die Bücherr der Bengal-Nagpur Eisenbahn Gesellschaft. Der erstaunte Prüfer entdeckte, dass Vater niemals fällige Gratifikationen beantragt hatte.

„Er hat die Arbeit von  drei Leuten gemacht!“ berichtete der Rechnungsprüfer der Gesesellschaft. „Es stehen ihm noch 125 000 Rupien (ungefähr 50 000 €) als Ausgleichszahlung zu.“ Die Beamten stellten Vater einen Scheck über diese Summe aus. Er achtete das so gering, dass er vergaß, darüber irgendwann einmal in seiner Familie zu sprechen. Viel später fragte ihn mein jüngster Bruder Bishnu deswegen, weil er das große Guthaben auf einem Bankauszug bemerkt hatte.

„Warum sollte man wegen materiellen Gewinns mit Stolz erfüllt sein?“ antwortete Vater. „Jemand der sich Gleichmut zum Ziel gesetzt hat, jubelt nicht bei Erfolg, noch drückt ihn ein Verlust nieder. Er weiß, dass der Mensch ohne einen Cent in dieser Welt ankommt und sie auch ohne einen Cent wieder verlässt.“

Schon in ihren ersten Ehejahren wurden meine Eltern Schüler des großen Meisters Lahiri Mahasaya aus Benares (heute Varanasi). Diese Beziehung verstärkte noch die asketische Natur, die meinem Vater eigen war. Meine Mutter machte meiner ältesten Schwester Roma einmal ein bemerkenswertes Geständnis: „Dein Vater und ich vollziehen nur einmal im Jahr die Ehe, und das zum Zweck der Zeugung von  Kindern.“

Vater traf Lahiri Mahasaya das erste Mal über Abinash Babu7, einen Mitarbeiter im Büro der Bengal-Nagpur Eisenbahn. Abinash klärte mich in meinen jungen Jahren mit fesselnden Geschichten über viele indische Heilige auf. Ausnahmslos zollte er aber am Ende seinem eigenen Guru eine höhere Anerkennung.

„Hast du jemals vernommen, unter welchen außergewöhnlichen Umständen dein Vater Schüler von Lahiri  Mahasaya wurde?“

Es war an  einem schwülen Sommernachmittag, als Abinash und ich auf dem Gelände meines Elternhauses zusammen saßen, als er mir diese verschlagene Frage stellte. Mit einem erwartungsvollen Lächeln schüttelte ich meinen Kopf.

  „Vor Jahren, noch ehe du geboren warst, bat ich meinen Vorgesetzten – deinen Vater – mich eine Woche von meinen  Pflichten in Gorakhpur zu beurlauben,  damit ich meinen Guru in Benares besuchen könne. Dein Vater verspottete mich wegen dieser Absicht.

„’Bist du dabei ein religiöser Fanatiker zu werden?’ fragte er. ‚Konzentriere dich auf deine Büroarbeit, wenn du vorankommen willst.’

„Als ich an diesem Tag traurig auf einem Waldweg nach Hause lief, begegnete ich deinem Vater  in einer  Sänfte. Er schickte  seine Diener mit dem Beförderungsmittel weg und schloss sich mir auf dem Weg an.  Im Versuch mich wieder aufzurichten, versuchte er mir klarzumachen, welche Vorteile das Streben nach weltlichem Erfolg mit sich brächte. Ich hörte ihm nur uninteressiert zu. Mein Herz wiederholte immer wieder: ‚Lahiri Mahasaya! Ich sterbe,  wenn ich dich nicht besuchen kann!’

„Unser Weg führte uns an den Rand eines ruhigen Feldes, wo die Strahlen der Spätnachmittagsonne immer noch die hohen Wellen des wilden Grases krönten. Bewundernd hielten wir inne. Dort in dem Feld, nur ein paar Meter von uns entfernt, erschien plötzlich die Gestalt meines großen Guru.8

     „‚Bhagabati,  du bist zu streng mit deinem Mitarbeiter!’ Seine Stimme klang in unseren erstaunten Ohren wider. Er verschwand auf so geheimnisvolle Weise, wie er gekommen war. Auf fiel auf meine Knie und flehte: ‚Lahiri Mahasaya! Lahiri Mahasaya!’ Dein Vater stand vor Verblüffung einige Momente regungslos.

„’Abinash, ich gebe nicht nur dir den Urlaub, auch ich selbst mache Urlaub und fahre morgen nach Benares. Ich muss diesen großen Lahiri Mahasaya kennen lernen, der sich willkürlich materialisieren kann, um für dich zu intervenieren! Ich werde auch meine Frau mitnehmen und diesen Meister darum bitten, uns in seinen spirituellen Weg einzuweihen. Willst du uns zu ihm führen?’

„’Natürlich.’ Nach dieser wundersamen Antwort auf mein Gebet und die schnelle und günstige Wendung in den Ereignissen war ich überglücklich.

„Am nächsten Abend machten sich deine Eltern und ich auf den Weg nach Benares. Am nächsten Tag nahmen wir einen Pferdekutsche und mussten danach noch durch enge Gassen laufen um zur entlegenen Behausung meines Gurus zu gelangen. Nachdem wir in sein kleines Wohnzimmer getreten waren, beugten wir uns vor dem Meister, der mit im Lotussitz verschränkten Beinen dasaß. Er zwinkerte mit seinen durchdringen Augen und ließ sie auf deinen Vater sinken.

„’Bhagabati, du bist zu streng mit deinem  Mitarbeiter!’ Seine Worte waren dieselben, die er zwei Tage zuvor, vor dem Feld in Gorakhpur, gesprochen hatte. Er fuhr fort: ‚Ich bin froh, dass du Abinash erlaubt hast, mich zu besuchen, und dass du mit deiner Frau ihn begleitet hast.’

„Zu ihrer Freude weihte er deine Eltern in die spirituellen Übungen des Kriya Yoga9 ein. Seit dem denkwürdigen Tag der Vision waren dein Vater und ich, jetzt auch Bruderschüler, enge Freunde. Lahiri Mahasaya zeigte ein besonderes Interesse an deiner eigenen Geburt. Dein Leben soll sicherlich mit seinem eigenen verkettet werden: die Segnung des Meisters zeigt stets seine Wirkung.“

Lahiri Mahayaya verließ diese Welt kurz nachdem ich in sie getreten war. Sein Bild in einem verzierten Rahmen, schmückte immer unseren Familienaltar in den verschiedenen Städten, in die unser Vater von seiner Behörde versetzt wurde. Viele Morgen und Abende fanden meine unter und mich vor einem improvisierten Altar, an dem wir duftende, in  Sandelholzpaste getunkte Blumen opferten. Auch mit Weihrauch und Myrre zusammen mit unserer vereinten Hingabe, ehrten wir die Gottheit, die in Lahiri Mahasaya zum vollen Ausdruck gekommen war.

Sein Bild hatte einen überraschenden Einfluss auf mein Leben. Mit meinem Heranwachsen, wuchs auch der Gedanke an den Meister mit mir. In Meditation, sah ich oft sein fotographisches Bild sich aus seinem kleinen Rahmen lösen und eine lebende Gestalt annehmen, die sich vor mich hinsetzte. Versuchte ich die Füße dieses leuchtenden Körpers  zu berühren, veränderte es sich und wurde wieder zum Bild.

Als sich die Kindheit in das Jungenalter schlich, wandelte sich mein mentales Bild von Lahiri Mahasaya von einem kleinen in einen Rahmen gestecktes Bild zu einer lebedigen, erleuchtenden Gegenwart. Oft betete ich zu ihm in Momenten der Prüfung oder Verwirrung und fand in  mir seine tröstende Führung. Zuerst war ich traurig,  weil er nicht mehr physisch lebte. Als ich begann zu merken, dass er heimlich allgegenwärtig  ist, beklagte ich mich nicht mehr. Oft hatte er jenen seiner Schüler geschrieben, die über-begierig waren ihn zu besuchen: „Warum  wollt ihr meine Knochen und mein Fleisch sehen, wenn ich immer für euer kutashta (spirituelles Sehen) fassbar bin?“

Ungefähr mit acht Jahren wurde ich mittels einer Fotographie Lahiri Mahasayas von einer  wundersamen Heilung gesegnet. Durch diese Erfahrung wurde meine Liebe geschürt. Auf unserem  Familiengelände in Ichapur, Bengalen, erkrankte ich an asiatischer Cholera. Man fiel um  mein Leben in Verzweiflung; die Ärzte waren machtlos. An der Seite meines Bettes bewog mich meine Mutter fiebernd, dass ich das Bild Lahiri Mahasayas an der Wand über meinem Kopf betrachte.

„Verbeuge dich im Geiste vor ihm!“ Sie wusste, dass ich sogar zu schwach war, meine Hände zum Gruß zu erheben. „Wenn du wirklich deine Ergebenheit zeigst und dich innerlich vor ihm kniest, wird dein Leben gerettet sein!“

Ich schaute auf seine Fotographie und sah dort ein blendend weißes Licht, das meinen Körper und den gesamten Raum einhüllte. Meine Übelkeit und andere unkontrollierbare Symptome verschwanden. Es ging mir wieder gut. Sofort fühlte ich mich wieder stark genug, mich vorwärts zu beugen, um die Füße meiner Mutter in Anerkennung ihres unermesslichen Vertrauens an ihren Guru zu berühren. Meine Mutter drückte wiederholt ihren Kopf gegen das kleine Bild.

„Oh Allgegenwärtiger Meister, ich danke dir, dass dein Licht meinen Sohn geheilt hat!“

Ich erkannte, dass auch sie den leuchtenden Schein wahrgenommen hatte, durch den ich augenblicklich von einer normalerweise tödlichen Krankheit geheilt wurde.

Eine meiner meist geschätzten Besitztümer ist genau diese Fotographie. Lahiri Mahasaya schenkte sie meinem Vater persönlich und sie trägt eine heilige Schwingung. Das Bild selbst hatte eine wundersame Ursprung. Ich hörte die Geschichte vom Bruderschüler meines Vaters Kali Kumar Roy.

Es zeigte sich, dass der Meister eine Abneigung dagegen hatte photographiert zu werden. Gegen  seinen Protest wurde einmal ein Gruppenbild mit ihm  und einer Gruppe von Schülern  aufgenommen, auch Kali Kumar Roy war darunter. Der Fotograph war sehr erstaunt, als er feststellte, dass die Platte ein klares Abbild aller Schüler zeigte, aber im Zentrum, wo er  vernünftigerweise erwartet hatte, das Konterfei Lahiri Mahasayas zu finden, nur einen leeren Raum.  Dieses Phänomen wurde weithin diskutiert.

Ein bestimmter Student und Experte im Fotografieren, Ganga Dhar Babu, rühmte sich, dass die flüchtige Gestalt ihm nicht entkommen würde. Am nächsten Morgen, als der Guru auf einer hölzernen Bank vor einem Wandschirm hinter ihm im Lotussitz saß, kam Ganga Dhar Babu mit seiner Ausrüstung an. Er traf alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen, um einen Erfolg zu garantieren und machte gierig zwölf Aufnahmen. Auf jeder fand er bald die Abbildung der hölzernen Bank und des Wandschirms, doch wieder fehlte des Meisters Gestalt.

Mit tränen und zerrüttetem Stolz suchte Ganga Dhar Babu seinen Guru auf. Nach vielen Stunden brach Lahiri Mahasaya sein Schweigen und kommentierte prägnant:

„Ich bin Geist. Kann deine Kamera das allgegenwärtige Unsichtbare abbilden?“

„Ich sehe, dass sie es nicht kann! Doch, Heiliger Herr, ich wünsche liebevoll ein Bild von deinem körperlichen Tempel, wo nach meinem begrenztem Sehvermögen der Geist alleine erscheint, um vollständig darin zu wohnen.“

„Dann komme morgen früh. Ich werde mich von dir fotographieren lassen.“

Wieder stellte der Fotograph seine Kamera ein. Dieses Mal war die heilige Gestalt nicht mit einer mysteriösen Undurchdringlichkeit verhüllt und erschien in scharfen Umrissen auf der Platte. Der Meister hat niemals mehr für ein anders Bild posiert; zumindest habe ich keines gesehen.

Eine Reproduktion dieser Fotographie findet man in diesem Buch. Die schönen Charakterzüge von Lahiri Mahasaya, die einer universellen Kaste, deutet kaum an, zu welcher Rasse er gehörte. Seine intensive Freude der Kommunion mit Gott offenbart sich in geringem Maße in seinem etwas rätselhaften Lächeln. Seine halb geöffneten Augen drücken eine nur nominelle Ausrichtung auf die äußere Welt aus, sind gleichzeitig auch halb geschlossen. Die ärmlichen Verlockungen dieser Erde völlig vergessend, war er vollkommen und für alle Zeiten wach für die spirituellen Probleme aller Suchenden, die ihn wegen seiner Großzügigkeit in spiritueller Hinsicht aufsuchten.

Kurz nach meiner Heilung durch des Gurus Bild Wirkmächtigkeit, hatte ich eine richtunggebende Vision. Als ich an einem Morgen auf meinem Bett saß, fiel ich in eine tiefe Träumerei.

„Was befindet sich hinter dem Dunkel geschlossener Augen?“ Dieser bohrende Gedanke drückte kraftvoll in meinen Verstand. Ein immenser Lichtblitz manifestierte sich augenblicklich meinem inneren Blick. Göttliche Gestalten von Heiligen, die in  Meditationshaltung in Bergeshöhlen saßen, bauten sich auf der großen Leinwand von Ausstrahlung in meiner Stirn wie Miniaturbilder auf.

„Wer seid irh?“ sagte ich laut.

„Wir sind die Yogis im Himalaya.“ Die Himmlische Erwiderung ist schwer zu beschreiben; mein Herz war außer sich vor Freude.

„Ah, ich sehne mich, in den Himalaya zu kommen und zu werden wie ihr!“ Die Vision verschwand, doch der silberne Strahl dehnte sich in immer weiteren Kreisen in die Unendlichkeit aus.

„Was bedeutet diese wunderbare Leuchten?“

„Ich bin Iswara.10 Ich bin Licht.“ Die Stimme klang wie verhallender Donner.

„Ich will eins sein wie mit Dir!“

Aus meiner langsam schwindenden göttlichen Ekstase war ich in der Lage ein bleibendes Vermächtnis zu retten: der Inspiration  Gott zu suchen. „Er ist ewige, immer neue Freude!“ Die Erinnerung hielt noch lange nach dem Tag der Verzückung an.

Eine andere frühe Rückerinnerung ist überragend; und dies im wörtlichen Sinne, denn die Narbe ist bis zum heutigen Tage sichtbar. Meine ältere Schwester Uma und ich saßen in den frühen Morgenstunden unter einem Niemaum auf unserm Grundstück in Gorakhpur. Sie half mir bei einer Einführung in das Bengalische. Dabei konnte ich kaum meine Blicke von den kaum von den Papagein abwenden, die die reifen Früchte des Baumes aßen. Uma klagte über eine Eiterbeule an ihrem Bein und holte ein Glas mit Wundsalbe. Ich schmierte ein wenig von Salbe auf meinen  Vorderarm.

„Warum wendest du eine Arznei auf einen gesunden Arm an?“

„Gut, liebe Schwester, ich fühle, dass ich morgen eine Beule haben werde und ich probiere deine Salbe an der Stelle aus, wo ich die Wund haben werde.“

„Du kleiner Lügner!“

„Schwester, nenn mich keinen Lügner, bevor du gesehen hast, was Morgen früh geschieht.“ Ich war zutiefst empört.

Uma ließ sich dadurch nicht beeindrucken und wiederholte dreimal ihre höhnische Bemerkung. Eine felsenfeste Entschlossenheit schwang in meiner Stimme mit, als ich langsam antwortete:

„Bei der Macht der Willenskraft in mir sage ich dass ich morgen ein ziemlich großes Furukel an genau dieser Stelle meines Armes haben werde; und dein Furunkel soll zur zweifachen der jetzigen Größe anschwellen!“

Der nächste Morgen fand mich mit einer stattlichen Eiterbeule am angegebenen Punkt; der Umfang von Umas Beule hatte sich verdoppelt. Mit einem Gekreische, rannte meine Schwester zu meiner Mutter.  „Mukunda ist ein Geisterbeschwörer geworden!“ Ernst wies mich meine Mutter an, niemals die Kraft des Wortes zu nutzen,  um damit jemandem Schaden zuzufügen. Ich habe mich stets an ihren Rat erinnert und ihn befolgt.

Mein Furunkel wurde chirurgisch behandelt. Eine beachtliche Narbe, die vom Schnitt des Arztes zurückblieb, ist heute noch sichtbar. An meinem rechten Unterarm habe ich eine Mahnung an die Macht des einfachen Wortes eines Mannes.

Diese einfachen und scheinbar harmlosen an Uma gerichteten Sätze, die aber mit tiefer Konzentration gesprochen wurden, hatten genug verborgene Kraft besessen, wie Bomben  zu explodieren und einen bestimmten, wenn auch schädliche Wirkung hervorzurufen. Später sah ich ein,  dass die explosive Vibrationskraft in der Sprache mit weise dazu eingesetzt werden kann, sein Leben von Schwierigkeiten zu befreien und sie so einzusetzen, dass man sich weder Narben noch Verweise einhandelt.1112

Unsere Familie zog nach Lahore in den Punjab. Dort erwarb ich ein Bild der göttlichen Mutter in der Form der Göttin Kali.13 Es heiligte einen kleinen informellen Altar auf dem Balkon  unseres Hauses.  Eine unzweideutige Überzeugung überkam mich, dass jedes meiner Gebete,  das ich an diesem heiligen Ort äußern  würde, mit Erfüllung gekrönt werde.  Als ich dort eines Tages mit Uma stand, beobachtete ich zwei Drachen, die über den Dächern der  Gebäude auf der anderen Seite der sehr engen Gasse flogen.

„Warum bist du so still?“ Stieß mich Uma spielerisch an.

„Ich denke gerade darüber nach, wie wundervoll es ist,  dass die göttliche Mutter mir auch alles gib, um was ich sie bitte.“

„Ich nehme an, sie würde dir auch diese beiden Drachen geben!“ Meine Schwester lachte spöttisch.

„Warum nicht?“ Schweigend begann ich mit Gebeten für ihren Besitz.

In Indien spielt man eine Art Wettkampf mit Drachen und präpariert die Schnur mit Klebstoff und gemahlenem Glas. Jeder Spieler versucht die Schnur seines Gegners zu durchtrennen. Ein los geschnittener Drache schwebt über die Dächer; es entsteht ein großer Spaß, will man ihn wieder einfangen. Insoweit Uma und Ich uns auf dem Balkon befanden schien es unmöglich, dass ein gelöster Drache in unsere Hände hätte kommen können; seine Schnur würde normalerweise über den Dächern baumeln.

Die Spieler auf der anderen Seite der Gasse begannen mit ihrem Wettkampf. Eine Schnur wurde durchtrennt, sofort schwebte der Drache in meine Richtung. Er blieb für einen Moment an einem Ort, weil das Lüftchen plötzlich nachgelassen hatte. Das reichte, damit er sich mit  der Schnur fest in einem Kaktus ganz oben am Haus gegenüber verfangen konnte. Dadurch bildete sich eine vollkommene Schleife an der ich den Drachen in Beschlag nehmen konnte.  Ich überreichte Uma den Preis.

„Das war nur ein außerordentlicher Zufall und keine Antwort auf dein Gebet. Wenn der andere Drachen auch noch zu dir kommt, dann werde ich dir glauben.“ Die Augen meiner Schwester bezeugten mehr ihr Erstaunen als ihre Worte.

Ich setzte meine Gebete mit einer wachsenden Intensität fort. Ein gewaltsamer Ruck durch den anderen Spieler führte zu einem abrupten Verlust seines Drachens. Im Wind tanzend flog er auf mich zu. Mein hilfreicher Assistent, die Kaktuspflanze, sicherte abermals die Drachenschnur mit der notwendigen Schleife, an der ich sie fassen konnte. Ich übergab  auch meine zweite Trophäe an Uma.

„In der Tat, die göttliche Mutter hört auf dich! Dies ist alles viel zu unheimlich für mich!“ Meine Schwester sauste davon, wie ein erschrecktes Rehkitz.


[1]  Spiritueller Lehrer, von der Sanskritwurzel gur, erziehen, hochheben.

[2]  Einer der Yoga, „Vereinigung“, eine uralte indische Wissenschaft der Meditation über Gott, ausübt.

[3]  Als ich 1914 in den alten mönchischen Swami Orden eintrat, nahm ich den Namen Yogananda an. Mein Guru verlieh mir den Titel PARAMHANSA im Jahre 1935.

[4]  Traditionell die zweite Kaste der Krieger und Herrscher.

[5]  Diese alten Epen sind der Hort von Indiens Geschichte, Mythologie und Philosophie. Ein ein Band in der Reihe „Everyman’s Library“, RAMAYANA AND MAHABHARATA, gibt eine Zusammenfassung in englischen Versen von Romesh Dutt. (New York: E.P. Dutton).

[6] Dieses erhabene Sanskritgedicht, das Bestandteil des Mahabharata-Epos ist, ist die Bibel der Hindus. [Es folgt eine Literaturangabe zu einer englischen Übersetzung, die hier unübersetzt bleibt. Dafür soll darauf hingewiesen werden, dass Paramahansa Yogananda dazu selbst eine Neuübersetzung mit einem monumentalen Kommentar in seinem Werk: „Gott spricht mit Arjuna – Die Bhagavad-Gita – Königliche Wssenschaft der Gottverwirklichung – Das unsterbliche Zwiegespräch zwischen der Seele und dem Geist“, dt. Ausgabe 2004, hinterlassen hat.

[6] Babu (Herr) wird in bengalischen Namen ans Ende gesetzt.

[7] Die phänomenalen Kräfte, die große Meister beherrschen, werden in Kapitel 30: „Das Gesetz der Wundern“ erklärt.

[8] Eine yogische Technik, durch die der Tumult  der Sinnesempfindungen zur Ruhe gebracht wird, die es dem Menschen  erlaubt, eine immer größere Einheit mit dem kosmischen Bewusstsein zu erreichen. (siehe. Kapitel 26)

[9] Ein Sanskritname für Gott als Herrscher über das Universum; von der Wurzel Is, herrschen. In den heiligen Schriften der Hindus gibt es 108 Namen für Gott, jede trägt eine etwas andere Schattierung philosophischer Bedeutung.

[10] Die unendlichen Wirkpotentiale des Klanges kommen vom schöpferischen Wort Aum, der kosmischen Schwingungskraft, die allen atomaren Energien zu Grunde liegt. Jedes mit klarer Einsicht und tiefer Konzentration gesprochene Wort, hat einen materialisierenden Charakter. Laute oder stille Wiederholung von inspirierenden Worten hat sich beim Couéismus und ähnlichen Systemen der Psychotherapie als wirksam erwiesen; das Geheimnis liegt in der Anhebung der Schwingungsrate des menschlichen Verstandes. Der Dichter Tennyson  hat uns in seinen Memoiren einen Bericht zu seiner Methode von Wiederholungen hinterlassen, mit der er über das Bewusstsein des Verstandes hinaus in das Überbewusstsein gelangte:

„Eine Art von Trance im Wachen – so bezeichne ich es nur, weil ich keinen besseren Ausdruck dafür  finde – in der ich mich häufig, schon von meiner Jugendzeit an, wenn ich alleine war, befand“, schrieb Tennyson. „Das hat mich überkommen, wenn ich still meinen eigenen Namen vor mir wiederholte, bis es plötzlich schien, dass sich die Individualität selbst wegen der Intensität des Individualitätsbewusstseins auflöste, um in ein grenzenloses Sein zu verklingen.

Dies war jedoch kein verworrener Zustand, vielmehr der klarste, der aller sicherste, gänzlich unbeschreiblich – worin der Tod eine fast lächerliche Unmöglichkeit war – der Verlust der Persönlichkeit (wenn es zu ihr käme) keine Auslöschung zu bedeuten hätte, sondern das einzig wahre Leben sei.“ Er schrieb weiter: „Dies ist keine nebulöse Ekstase, sondern ein Zustand des transzendentalen Wunders, der mit einer absoluten Klarheit des Verstandes einhergeht.“

[11] Kali ist ein Symbol für Gott im Aspekt der ewigen Mutter Natur.

Über den Autor

Paramahansa Yogananda

Paramahansa Yogananda wurde 1893 in Indien geboren. Seine Eltern waren Schüler von Lahiri Mahasaya. Yogananda wurde ein Schüler von Sri Yukteswar, der ihn 1920 als Vertreter Indiens zu einem religiösen Kongress in Bosten schickte. Yogananda blieb in den USA und verbreitete dort den Kriya Yoga, gründete eine spirituelle Organisation, die Gemeinschaft der Selbstverwirklichung (Selfrealization Fellowship, SRF) und verbreitete die Kunde vom Kriya Yoga auf der ganzen Welt.

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