Lektion T65 – Neo-Tantra

Frage: Was ist der Unterschied zwischen „Neo“ (neuem) Tantra und altem Tantra und was ist das Tantra der Fortgeschrittenen Yoga Übungen?

Antwort: Tantra ist eines der ältesten integrierten Systeme spiritueller Übungen der Welt, vielleicht das älteste. Die ersten tantrischen Schriften aus dem alten Indien reichen 4000 Jahre und weiter zurück, also viel weiter als die Yoga-Schriften. Sie enthalten viele der genau gleichen Elemente, die man im Yoga und anderen Systemen der spirituellen Praxis überall auf der Welt vorfindet. Wir können nur vermuten, dass die nicht so alten Systeme Anleihen beim Tantra genommen haben. Vielleicht haben sie aber nur dieselben Entdeckungen zu den Mechanismen der menschlichen spirituellen Transformation gemacht, die Tantra bereits Jahrtausende zuvor vereinigt hat.

Außer dass es sehr alt ist, umfasst Tantra in seiner Mischung von spirituellen Übungen weitgehend alle Aspekte des menschlichen Verhaltens, auch Verhaltensweisen die man – aus der Perspektive eines kulturellen Standards der menschlichen Zivilisation – im Laufe der Jahrhunderte bisweilen als extrem eingestuft hat. Aus diesem Grund setzte man Tantra je nach den kulturellen Standards der jeweiligen Zeit selektiv ein. Zu Zeiten, da ethische Konformität massiv erzwungen wurde, hat man auch ganz darauf verzichtet, es anzuwenden. Tatsächlich geriet Tantra ziemlich in Vergessenheit und seltsamerweise fand es in Indien erst wieder den Weg in die Öffentlichkeit und von dort aus in die ganze Welt, als im 19. Jahrhundert einige der alten heiligen Schriften in englischer Übersetzung zu erscheinen begannen.

Natürlich hat „menschliches Verhalten“, von dem wir sprechen, etwas mit der Rolle der sexuellen Energie in der spirituellen Entwicklung zu tun. Dasselbe gilt für andere Arten von Verhaltensweisen, die vielleicht als sozial oder religiös inakzeptabel angesehen wurden. Besonders gilt dies für Sex, weil dieser eine vitale Rolle bei der Erweckung von ekstatischer Leitfähigkeit (Kundalini) im menschlichen Nervensystem spielt. Dies offen anzusprechen hat in Gesellschaften, in denen Sex in den Traditionen und Tabus der Zeit ordentlich zusammengeschnürt war, oft die Grenzen des Anstands überschritten. Inzwischen haben alle Religionen zumindest eine minimale Beziehung zwischen Sex und spiritueller Entwicklung erkannt. Deshalb finden wir unter der Priesterschaft oft den Zölibat und in der allgemeinen Bevölkerung Empfehlungen für sexuelle Zurückhaltung.

Wir wissen nun, dass die Zügelung des reproduktiven sexuellen Ausdrucks eine Hälfte der Formel ist. Die ganze Rolle der Sexualität in der spirituellen Entwicklung erfordert jedoch auch die Kultivierung sexueller Energie – offen, heimlich oder beides. Die Erhaltung und Kultivierung sexueller Energie ist die Formel, die wir bei den FYÜ-Lektionen in Verbindung mit anderen spirituellen Übungen angewandt haben. Und schon sind wir beim „Neo-Tantra“.

Während das „alte Tantra“ eine weite Bandbreite von Übungen umfasst, die sich mit Yoga (wenn man seinen vollen Umfang betrachtet) überschneidet, bezieht sich „neo-Tantra“ auf die moderne westliche Anwendung tantrischer Methoden, die vor allem sexuelle Praktiken betreffen.

Es liegt in der menschlichen Natur, Teile aus dem Ganzen herauszupicken, um Bedürfnisse des Augenblicks zu befriedigen. Nach der sexuellen Revolution und dem allgemeinen Anstieg des spirituellen Bewusstseins im Westen seit Ende des 20. Jh., wurde es immer dringender, die Sexualität in Beziehung zur Spiritualität besser zu verstehen. Das Aufkommen des Neo-Tantra ist eine Antwort auf diese Notwendigkeit, auch wenn dabei oft der breitere Umfang von Methoden unterschlagen wird, der seit Tausenden von Jahren Teil des Tantra gewesen ist – Meditation, Atemtechniken, Körperstellungen (Asanas) usw.

In gleicher Weise beobachten wir im Falle der modernen Besessenheit für Yoga-Stellungen (Neo-Yoga) und bei der zunehmenden Begeisterung für die nicht-duale Selbst-Analyse (Neo-Advaita) ein Herauspicken anderer Elemente aus dem Tantra Yoga. Bei allen handelt sich um eine Fragmentierung des ganzen Wissens. Dazu kommt es, weil die Bedürfnisse des Augenblicks erfüllt werden sollen. Das ist nicht falsch, solange am Ende das Ganze doch noch mit integriert wird. Wir alle müssen irgendwo beginnen und können nur hoffen, dass wir uns von dort zu einem breiteren Verständnis der effektiven Integration von Übungen weiterentwickeln, die zu guten langfristigen Ergebnissen führen.

Obwohl wir bei den Fortgeschrittenen Yoga Übungen Tantra als eine gesonderte Kategorie von Lektionen präsentiert haben, halten wir sehr viel von einer Integration des gesamten Tantra Yoga. Indem wir Tantra zu einer gesonderten Kategorie gemacht haben, in der es hauptsächlich um sexuelle Techniken geht, haben wir hoffentlich ausreichend die Bedenken berücksichtigt, die jemand zu sexuellen Methoden in Bezug auf das Yoga-Feld tragen kann. Die Vorteile des Yoga kann man sich in den Haupt-Lektionen zu Nutze machen, ohne gezwungen zu sein, in die tantrischen Methoden einzutauchen. Andererseits finden jene, die sich von den sexuellen Tantra-Methoden angezogen fühlen, bei diesen viele Anknüpfungspunkte zum Yoga-Ganzen der Haupt-Lektionen. Die Gesamtheit der FYÜ-Lektionen bildet ein integriertes Ganzes.

Sind die FYÜ-Tantra-Lektionen also zum Neo-Tantra oder zum alten Tantra zu rechnen? Das kann man so oder so sehen. Wenn jemand hierher kommt und nur an den sexuellen Techniken interessiert ist, dann handelt es sich um Neo-Tantra. Kommt jemand hierher, weil er nach sexuellen Techniken sucht und bei dem Prozess dann auf eine weite Bandbreite von Tantra bzw. Yoga stößt, dann ist das nicht mehr Neo-Tantra. Das ist der volle Umfang, das ganze Zeug mit allem drum und dran. Um was es sich also im Einzelfall handelt, bestimmt der Nutzer. Das Gleiche gilt für Neo-alles-andere, bei dem man sich auf irgendein Fragment des spirituellen Wissens und der Praxis konzentriert und es vom Ganzen abtrennt. Alle Teile führen zum Ganzen. Das Ziel der Fortgeschrittenen Yoga Übungen liegt darin, von irgendeinem Teil ausgehend als Tor zum Ganzen zu dienen. Das befindet sich im Einklang mit den spirituellen Fähigkeiten des menschlichen Nervensystems, die alle im Inneren miteinander verbunden sind. Jeder, der sich zunächst auf eine oder zwei Übungen verlegt, wird feststellen, dass dies zu einer ganzen Reihe von Übungen führen kann. Unsere Reise können wir überall beginnen, ob im Herzen, im Denken, im Körper, bei der Atmung, der Sexualität. Am Ende werden wir die Ganzheit dessen finden, was wir sind, vorausgesetzt wir sind gewillt, durch das Tor zu schreiten, das vor uns offensteht. Darüber muss jeder von uns entscheiden.

Bleiben wir offen, können wir nicht anders, als dem Alten zu begegnen, auch wenn wir nur nach dem Neuen suchen. So gleichen wir Notwendigkeiten des Augenblicks mit der riesigen Weisheit aus, die in uns flüstert. Auf diese Weise finden wir unsere Erweckung zur ewigen Freiheit, die immer in der Gegenwart ist.

Der Guru ist in dir.

Über den Autor

Yogani

Yogani ist ein anonymer US Amerikaner, der 2003 begann, im Internet sein spirituelles Wissen in Form von Lektionen zu veröffentlichen und damit auf einen großen Kreis Interessierter weltweit traf. Im Laufe der Jahre entstand Daraus eine umfassende Bibliothek zu allen Aspekten des Yoga. Inzwischen gibt es viele Übersetzungen in andere Sprachen. Die Lektionen sind immer noch kostenlos abrufbar. Heute gibt es auch Bücher, Hörbücher, Ebooks und im Englischen eine PLus-Mitgliedschaft sowie ein gut besuchtes Forum.

Hinterlasse eine Antwort

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Nächstes Seminar

Newsletter – Lektionen ins Postfach

Bücher des FYÜ-Verlags

Archive

Kategorien

Aktuelle Videos

Wird geladen...