Lektion 182 – F&A – Gesunde Skepsis
Frage: Ich mag das, was Du schreibst – sowohl den Inhalt, als auch den Stil. Dein Ansatz ist vernünftig und praktisch. Doch mit einigen Aspekten bin ich nicht zufrieden. Ist die ‚Wirbelsäulenatmung’ keine Hyperventilation, wobei die Aufmerksamkeit auf einen imaginären Wirbelsäulennerv-Kanal gelenkt wird? Wie reinigt die Mischung aus Atmungsphysiologie und mentalen Phänomenen das ‚Nervensystem’ konkret? Sind die so genannten Unreinheiten physisch (physiologisch) oder mental? Du betonst richtigerweise, dass Visionen usw. keine ‚Verwirklichung’ bedeuten. Niemand weiß, wie das Zusammenspiel von Körper und Geist wirklich funktioniert. Doch der Lebensstil des Yogi mit Meditation, Zufriedenheit, ‚Yama-Niyama’ verändert die Weltsicht des Betreffenden. Wie charakterisierst Du ‚göttliche Liebe’? Ist es ‚Karuna’, Mitleid? Vielleicht kannst Du etwas Licht auf diese Fragen werfen.
Antwort: Danke für deine Anmerkungen. Das schätze ich sehr.
Gesunde Skepsis ist gut, weil sie die Tendenz zu blindem Glauben und Aberglauben vermindert, die nicht gut für Yoga oder spirituellen Fortschritt sind – solange die Skepsis nicht ins Extreme geht und unseren Wunsch, die Wahrheit zu suchen, ganz tötet. Dann wird aus der Skepsis selbst eine Art Aberglauben. Ein guter Intellekt ist einer, der nachforscht, ausgeglichen ist und bereit, die nachweisliche Wahrheit von Dingen zu akzeptieren, auch wenn das heißt, dass in diesem Prozess der Intellekt (und das Ego) aufgelöst werden!
Wie Du ja schon gesehen hast, bin ich wissenschaftlich orientiert und betrachte Yoga sowohl als andauerndes Experiment als auch als Anwendung bekannter Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Deshalb findest Du nur äußerst wenig Theorie und Philosophie in diesen Lektionen. Die Lektionen sollen nicht den neugierigen Verstand unterhalten. Sie sollen uns solide Mittel zur Verfügung stellen, die wir dazu nutzen können, das zum Besseren zu verändern, zu was wir auf dieser Erde sind – falls wir uns dazu entschließen. Es gibt eine Menge, was wir nicht wissen. Doch wir sind hier und können in unseren Lebenserfahrungen auf bemerkenswerten Wegen wachsen, wenn wir gewillt sind, das Nötige zu tun, damit unser Nervensystem so angeregt wird, dass es sich in ihrer natürlichen evolutionären Richtung weiterentwickelt.
Wenn Du die Erklärungen von Dingen nur schwer glauben kannst, ist das in Ordnung. Das sind eben nur Erklärungen, nur Konzepte. Die Übungen sind etwas anderes. Führen wir sie in der vorgeschlagenen Weise aus, werden sich in uns Veränderungen vollziehen. Niemand muss sich auf die Worte von jemand anderem verlassen. Es ist eine persönliche Erfahrung, die jeder einzelne in der Intimität seines eigenen Zimmers und in seinen täglichen Aktivitäten haben kann. Das Yoga-Experiment ist eines, das jeder selbst durchführen muss, und dies ist die wichtigste Aussage für uns alle zu Yoga. Befasse dich also mit dem Experiment und sieh, was Du in Dir selbst finden kannst. Das kann eine wundervolle Überraschung werden – eine, die unsere Aufmerksamkeit so sehr fesselt, dass sie uns einen Glauben an unsere göttlichen Möglichkeiten vermitteln kann. Die besten Yogis und Yoginis sind sowohl gläubig als auch skeptisch. Sie glauben, dass es eine Bestimmung gibt und sie werden nichts akzeptieren als die effektivsten Mittel, um dorthin zu gelangen. Sie lassen Kulte und Dogmen hinter sich, nachdem sie den Samen der Wahrheit aus ihnen geerntet haben. Und sie sind ständig Feuer und Flamme für die Fortführung der Reise.
Nachdem dies nun gesagt ist, versuche ich einmal, auf Deine Fragen zu antworten. Denke aber daran: Sobald Du die Übungen wirklich einmal ausprobierst, werden Deine eigenen Erfahrungen in diesen Dingen schwerer wiegen als alles, was irgendjemand anderes darüber sagt. Du selbst bist das Spielfeld. Alles andere sind nur Informationen und Ratschläge.
Zur Frage, ob die Wirbelsäulenatmung als Hyperventilation nicht zu viel Sauerstoff in den Blutkreislauf bringt: Aus diesem Grund werden Menschen mit Hyperventilation angewiesen, für ein paar Minuten in eine Papiertüte zu atmen, bis sich der Sauerstoffüberschuss reduziert. Wirbelsäulenatmung und die meisten anderen Formen von Pranayama sind das Gegenteil davon. Pranayama bedeutet „Zurückhalten der Lebenskraft (Atem)“. Mit Pranayama beschränken wir also systematisch und behutsam den Sauerstoffverbrauch. Warum? Es stimuliert die im Körper (hauptsächlich im Beckenbereich) gespeicherte Lebenskraft, das auszugleichen und sich ins Nervensystem nach oben zu bewegen, um uns zu versorgen. Dies ist ein neuro-biologisches Phänomen, das sowohl beruhigende als auch energetisierende Effekte im Körper und Geist hervorruft.
Kann man diese Lebenskraftsubstanz bzw. Energie mit der Aufmerksamkeit lenken? Die Erfahrung zeigt, dass dies möglich ist. Lenkt man sie durch den Wirbelsäulennerv zwischen dem Punkt zwischen den Augenbrauen und dem Perineum nach oben und unten, geschieht etwas. Nach einiger Zeit ist es dann nicht mehr nur eine Übung in der Vorstellung. Es kommt zu einer Erweckung und daraus wird ein neuro-biologisches Ereignis. Ich nenne es den Aufstieg von „ekstatischer Leitfähigkeit“. Auf jeden Fall kann man den Wirbelsäulennerv durch eine kombinierte Anwendung von Aufmerksamkeit und Atem dazu veranlassen, ein andauerndes Erwachen hervorzubringen, woraus ein großes Spektrum neuro-biologischer und psychologischer Wirkungen hervorgeht. Ich kann Dir nicht genau sagen, warum dies so ist. Doch kann ich Dir aus Erfahrung versichern, dass es so ist. Viele andere können dies bestätigen und Du kannst dazu ziemliche viele Beispiele in den F&A finden. Es ist auch in Tausende Jahre alten heiligen Schriften beschrieben. Nicht dass wir die Worte von jemand anders in Treu und Glauben annehmen müssten. Es ist, was es ist – ein Pfad dorthin, wohin uns das menschliche Nervensystem bringen kann.
Wann immer es einen neuen Ort gibt, wohin man gehen kann, dann findet sich auch jemand, der sich dorthin begibt. Die unternehmungslustige Menschheit ist so. Ist der Ort gut, werden schließlich viele dorthin gehen. Vielleicht stehen wir kurz davor, dass sich viele Menschen zu dem wundervollen Ort „Erleuchtung“ aufmachen. Es ist nur die Frage, wie man diesen Ort richtig beschreibt und den Weg gut ausschildert. Viele haben das bereits unternommen. Die Lektionen sind ein erneuter Versuch, dies zu tun, ein Versuch, der mehr in eine offenere wissenschaftliche Richtung zeigt.
Zugegebenermaßen ist der Aspekt der Reinigung, nach dem Du fragst, mysteriös, doch er ist für alle, die Yoga praktizieren, eine Tatsache. Er vollzieht sich im Geist, in den Emotionen und im Körper, und diese sind miteinander verbunden. Wir wissen, dass der menschliche Körper sich selbst reinigt (wie er sich auch selbst heilt) wenn ihm dazu die Gelegenheit gegeben wird. Das geschieht im Schlaf und geschieht auch, wann immer man den Körper und Geist der normalen Belastungen entledigt. Es ist erwiesen, dass Fasten reinigende Wirkungen auf den Körper hat. Pranayama ist auf der Ebene der Luft eine Form des Fastens – und es zeigen sich im Körper Wirkungen. Auch die Meditation ist eine Form des Fastens – auf der Ebene des Denkens; man reduziert das Denken und lässt den Geist dadurch systematisch zur Ruhe kommen. Wir zwingen den Verstand nicht zur Stille. Es geschieht ganz einfach automatisch, wenn man die richtigen Bedingungen im Verstand herstellt. Im Allgemeinen kommt es im Körper zu Reinigung, wenn wir zulassen, dass sich irgendetwas verringert oder aufhört – Nahrung, Luft, Gedanken, Stoffwechsel usw. Wenn alles oder irgendetwas davon weniger wird oder völlig zur Ruhe kommt, dann kann sich Reinigung vollziehen.
Die Reinigung durch Yoga kann in vielen Formen auftreten – von scheinbar zufälligen Gedankenströmen zu ungewöhnlichen Emotionen, inneren sinnlichen Ereignissen und physischen Anzeichen wie unwillkürliche Körperbewegungen, Schwitzen, physische Empfindungen usw. In seltenen Fällen kann es zu Hautausschlägen, Fieber, Schmerz und anderen extremen physischen Symptomen kommen. Einen Großteil des Yoga macht bereits die Kunst aus, die Übungen derart zu steuern, dass die Reinigung auf einem so stabilen und angenehmen Niveau wie möglich weitergeht. Ich erhalte täglich E-Mails von Menschen, die versuchen, Übungen mit verschiedenen Symptomen der Reinigung auszubalancieren. Die Vielfalt von physischen, emotionalen und mentalen Symptomen der Reinigung, die sich beim Yoga ergeben können, scheint endlos zu sein. Der neuro-biologische Prozess der Reinigung und Öffnung ist etwas sehr Reales und bildet den Kern der Yoga-Reise. Deshalb legen wir in diesen Lektionen so viel Nachdruck auf die Selbstabstimmung der Übungen.
„Göttliche Liebe“ ist das, was geschieht, wenn sich das Nervensystem reinigt und bis zu einem Punkt öffnet, dass sich unser Bewusstsein viel weniger mit dem Körper als dem Selbst identifiziert. Dann wird jedes Lebewesen ein Teil unserer eigenen zunehmenden Wahrnehmung der Einheit. Göttliche Liebe (Einheit) wird in unserem Nervensystem als eine neuro-biologische Vereinigung der ineinander verschmelzenden tiefen inneren Stille mit ekstatischen Energien geboren. Dann dehnt sich dies auf eine bestimmte Weise über unseren physischen Körper hinaus aus und wir werden zum anderen. Wenn wir zum anderen werden und der andere uns genauso lieb ist wie unser eigenes Selbst, so ist dies Liebe, nicht wahr? Jeder fühlt dies intuitiv. Frieden, Weisheit, Mitgefühl, Sittlichkeit, selbstloser Dienst und Opfer sind natürliche Eigenschaften, die wir in uns tragen. Wir können in Fühlung mit ihnen leben oder nicht. Doch sind sie latent in jedem von uns vorhanden.
Das sich abspielende menschliche Drama hat den Zweck, das Licht in unserm Inneren auf unserem Weg der Überwindung der Dunkelheit zu offenbaren. Bei so ziemlich jeder Geschichte, die jemals erzählt wurde, ging es darum – entweder buchstäblich oder metaphorisch. Warum birgt dieses Thema solch einen universellen Reiz? Ist es, weil wir instinktiv wissen, dass wir das Licht sind?
Machen wir mit Yoga weiter, werden die positiven Eigenschaften in uns stärker. Das bedingt, dass mit anhaltender Ausräumung innerer Blockierungen etwas „Göttliches“ aus dem Inneren durchscheint. Ist dies wirklich wahr? Sind wir im Innersten göttlich? Das ist wieder eine Frage von Ursache und Wirkung. Fahren wir mit unseren Yoga-Übungen fort, ist es genau das, was sich letztendlich ergeben wird. Diese Erfahrung haben im Laufe der Jahrhunderte viele gemacht. Seit Tausenden von Jahren wurde dies immer wieder schriftlich festgehalten. Es ist ein Teil der menschlichen Erfahrung, die jedem zugänglich ist, der gewillt ist, die Mittel einzusetzen, die sie erblühen lassen.
Verlasse Dich nicht auf meine Worte. Mach mit Yoga die Probe aufs Exempel, untersuche alles selbst und komme selbst zu einem Schluss. Ich wünsche Dir bei Deinen Bemühungen, die Wahrheit zu ergründen, allen Erfolg.
Der Guru ist in Dir.
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