Lektion 323 – Welche Rolle spielen Wissen, Philosophie und direkte Erfahrung?

Wir würden alle gern die Wahrheit unserer Existenz auf dieser Erde erfahren. Unser ganzes Leben hindurch mögen wir danach suchen, indem wir uns Fragen wie folgende stellen:

»Wer bin ich?«
»Was tue ich hier?«
»Wer oder was ist Gott?«
»Was ist die wahre Natur der Dinge?«
»Ist das, was ich im Augenblick erfahre, wirklich wahr?«
Uns so weiter …

Forschen wir weiter und empfinden wir unsere Fragen mit Gefühl und Ausdauer, werden die Antworten früher oder später zu uns kommen. Wie wir dabei vorgehen, bestimmt die Schnelligkeit unseres Fortschritts und den Grad der Leichtigkeit oder der Schwierigkeit, die wir auf der Straße zum Wissen erfahren mögen. Deshalb kann uns eine Methode mit vorhersehbaren Ergebnissen einige wichtige Vorteile verschaffen. Wir versuchen hier in diesen Lektionen, einen verlässlichen Ansatz zum Gebiet der Selbst-Analyse aufzuzeigen. Gedulde dich bitte noch einige Lektionen und alles wird klar werden.

Ein gewisses Maß an »Verlässlichkeit« auf dem Gebiet der Selbst-Analyse zu erreichen ist eine neuartige Idee, weil die traditionellen Ansätze der Selbst-Analyse aus Gründen, die im weiteren Verlauf klar werden, oft mit viel Unsicherheiten verbunden sind. Ist eine derartige Unsicherheit notwendig? Nicht wirklich, wenn man sich nur ein wenig Wissen und Verständnis über die Dynamik der spirituellen Transformation aneignet. Gewinnt man darin etwas praktische Fertigkeit, kann man die Reise bestreiten, ohne an den Scharnieren des göttlichen Tors unseres Nervensystems ziehen oder in endlosen Schleifen der mentalen Maschine stecken bleiben zu müssen.

Es ist ein Paradox, dass formal strukturierte Ansätze zur Selbst-Analyse zu Unsicherheit und begrenzten Ergebnissen führen können.

Wäre die Suche nach der Wahrheit einfach nur eine Frage der Entwicklung eines intellektuellen Verständnisses der Wirklichkeitsnatur, wäre das einfach – ebenso einfach wie der Besuch eines Hochschulkurses Physik mit Einführung in die Prinzipien der Quanten-Mechanik. Damit lernen wir, dass sich alles, was wir im Leben tun oder sehen, in einem riesigen Reich absoluter Leere abspielt – mit zahllosen kleinsten miteinander interagierenden Energieeinheiten, wodurch die Erscheinung und die Substanz von allem entsteht, was wir in unserer Welt als real betrachten. Wie real kann diese durch unsere Sinne wahrgenommene Welt sein, wenn alles, was wir sehen, hören und berühren nichts weiter ist als in der riesigen Leere mit sich selbst interagierende Energie? Dies ist eine Frage, die man unvermeidlich stellen muss, wenn man die letzten Implikationen der Quantenmechanik oder unseres Lebens in dieser Welt in Betracht zieht. Warum gibt es da eine offensichtliche Diskrepanz zwischen dem, was uns die Physik lehrt und der physischen Welt, wie wir sie um uns herum wahrnehmen? Und welche Auswirkungen hat diese Diskrepanz auf unsere Lebensqualität? Kann uns die Erkenntnis der Wahrheit von all dem von unserem Leiden befreien, wie uns das die Weisen aus der Vergangenheit und Gegenwart versprochen haben?

Jeder kann das selbst durch seine eigene Erfahrung herausfinden. Das ist eine Frage des Wahrnehmens und Erkennens. Um mehr zu erfahren und zu wissen, müssen wir unsere Wahrnehmung schulen. Während wir mit unseren normalen Sinnen keine Radiowellen empfangen können, haben wir die Technologie entwickelt, sie mit Instrumenten zu empfangen und sie uns mit großen Vorteilen zunutze zu machen. Die moderne Wissenschaft hat auf diese Weise für uns viele Tore geöffnet. Interessanterweise geht die alte Wissenschaft des Yoga noch ein ganzes Stück weiter, als die moderne Wissenschaft bisher im Umgang mit dem unsichtbaren Reich der absoluten Leere gegangen ist, von der behauptet wird, dass wir daraus gemacht sind und dass wir darin leben. Während die moderne Wissenschaft zur Wahrnehmung und Nutzung der Naturprinzipien, die wir nicht sehen können, auf Instrumente angewiesen ist, verlässt sich das Yoga-Gebiet auf das menschliche Nervensystem, um dieselben Dinge zu tun und mit bemerkenswerten Erfolgen.

Obwohl die Nutzung unseres eigenen Nervensystems als primäres Instrument für die Erkenntnis und Anwendung der letztendlichen Wahrheit des Lebens wie eine neuartige Idee erscheinen mag, hat es schon immer kleine Gruppen von Menschen gegeben, die das seit Jahrtausenden praktizieren. Die großen Religionen der Welt sind aus diesen spirituellen Innovationszentren hervorgegangen, um dann zu wachsen. Heute befinden wir uns im Informationszeitalter, in dem Wissen sehr viel einfacher aufbereitet, erhalten und mit vielen geteilt werden kann. Die moderne Informationstechnologie kommt der uralten Wissenschaft des Geistes zur Hilfe.

Dank des raschen Zuwachses von Wissen haben wir eine Trendwende erreicht, einen Punkt, an dem viele Menschen auf der ganzen Welt ihre Nachforschungen über die Natur der Dinge vertiefen können, indem sie die Perspektive von einer Haltung des »Außerhalb-von-uns-selbst-Seins« ändern und eine durchdringendere Suche vom Standpunkt dessen, was in uns ist – unser strahlendes inneres SELBST – mit einschließen. Dies ist dadurch möglich geworden, dass es in der modernen Welt zu einer Zunahme von Wissen über integrierte spirituelle Übungen gekommen ist, und daran haben die Prinzipien und Methoden der praktischen Selbst-Analyse ihren Anteil.

Selbst-Analyse ist nichts Neues. Sie ist seit Jahrhunderten ein Teil von Yoga und anderen spirituellen Übungen. Sie lief unter der Bezeichnung Jnana Yoga, was »Vereinigung durch Wissen« bedeutet. D.h., Vereinigung der inneren und äußeren Aspekte des Lebens. Selbst-Analyse wurde auch Pfad der Unterscheidung und Pfad des Intellekts genannt. Wissen von Was? Unterscheidung von was? Intellektuelles Wissen von was? Diese Fragen sind gerechtfertigt. Jnana bedeutet auch Weisheit, was auf eine tiefere Ebene von Erkenntnis verweist, ein spirituelles Wissen, bei dem die Fragen und Antworten in das EINE verschmelzen. Das ist das Endspiel der Selbst-Analyse und des ganzen Yoga.

In den folgenden Lektionen werden wir uns in die Einzelheiten der Selbst-Analyse und zusätzliche Yoga-Übungen, die Voraussetzung für ihren Erfolg sind, vertiefen. Doch zuerst wollen wir noch das Verhältnis von Philosophie zur Erfahrung betrachten, weil dies bei der Bildung eines Rahmens und einer Basis für eine praktische Herangehensweise an die Selbst-Analyse hilfreich sein kann. Dies ist ein Ausgangspunkt.

Beginnen wir über die wahre Natur der Dinge nachzudenken, ist es hilfreich, ein Fundament in Form einer Idee oder Struktur zu haben – oder noch besser ein Ideal. Aus diesem Grund wurde die Quantenphysik bereits erwähnt, weil diese das Modell unserer modernen Wissenschaft für die unserer physischen Welt zugrunde liegenden Leere darstellt. Die alten philosophischen Traditionen des Ostens sind mit dieser Sicht vergleichbar. Allerdings fügen diese noch eine zusätzliche Komponente hinzu – die Gegenwart von Bewusstsein in der absoluten Leere und aus dieser entstehend. Obwohl es nicht möglich sein mag, zu beweisen, dass die allem zugrunde liegende Leere Bewusstsein ist, können wir auf jeden Fall beweisen, dass alles, was sich aus der Leere manifestiert, Bewusstsein ist, weil wir Bewusstsein sind.

Die uralte östliche Philosophie wie auch einige der westlichen Philosophien halten die Leere für das Große SELBST von allem und sagen, dass alle individuellen Selbste Strahlen sind, die aus dem einen Großen SELBST ausstrahlen, ähnlich wie die Wellen, die auf dem Ozean tanzen, nur um sich aufzulösen und dann auf der Oberfläche des Ozeans immer wieder zu erscheinen. Die Wellen sind sich unablässig verändernde Ausdrucksformen des großen Ozeans, auf dem sie tanzen.

Darüber, ob der große Ozean von Leere jenseits des manifestierten Universums bewusst ist, kann man streiten. Doch es besteht wenig Zweifel darüber, dass menschliche Wesen bewusst sind. Es ist diese bemerkenswerte Tatsache, die dem gesamten Gebiet der Selbst-Analyse zugrunde liegt. Es gibt einen riesigen theoretischen Wissensschatz, den man in den weithin dokumentierten Philosophien sowohl des Westens wie des Ostens findet, und dazu noch die experimentelle Komponente des Bewusstseins, die man in jedem menschlichen Wesen antrifft. Setze diese zwei zusammen und du hast die Anfangsgründe der Selbst-Analyse.

Es ist wirklich ziemlich einfach. Sehen wir einmal ein, dass wir in Wirklichkeit der Ozean sind, und zwar vor, während und nachdem wir zur Welle geworden sind, dann ist die Selbst-Analyse abgeschlossen. Dann sind wir erleuchtet. Philosophisch bezeichnet man das als das Ende des Wissens. Im Osten nennt man das Vedanta – das Ende von Veda oder das Ende des Wissens.

Erfahrungsgemäß ist es jedoch nicht so einfach. Da ist noch etwas mehr nötig, was oft jene übersehen, die eine kompromisslose Sicht auf die menschliche Erleuchtung einnehmen. Entspricht unsere eigene Erfahrung nicht der Philosophie oder auch nur dem, was andere als ihre Erfahrung ausgeben mögen, dann ist die Analyse nicht vollständig. Während Puristen darauf bestehen mögen, dass die Leere alles durchdringt und dass wir in einer »nicht-dualen« Existenz, anstatt in der scheinbaren »dualistischen« Welt leben, muss doch jeder Einzelne von uns den Wahrheitsgehalt derartiger Aussagen überprüfen. Erst dann wissen wir. Bis das geschehen ist, sollten wir uns nicht auf die Worte von jemand anderem verlassen. Genau aus diesem Grund werden die Methoden der Selbst-Analyse mitgeteilt.

Es stellt sich allerdings heraus, dass die Selbst-Analyse alleine schon ein sich bewegendes Ziel ist, deren Ergebnisse sehr stark von der Person abhängen, die sie unternimmt, und demnach auch variieren. Genauso wie bestimmte Ideen bei einigen Menschen nachhallen, bei anderen nicht, genauso können die Methoden der Selbst-Analyse mit einigen Übenden harmonieren, mit anderen nicht. Der Grund für diese Unterschiede liegt im inneren Zustand des Nervensystems jeder Person. Die Art und der Grad der inneren Reinigung und Öffnung tief im Inneren von uns wirkt sich direkt auf den Grad des Bewusstseins aus, das uns zur Erlangung eines direkten erfahrungsbezogenen Wissens über die Natur der Existenz zur Verfügung steht.

Der wichtigste Faktor dabei ist die Gegenwart von etwas, das wir »innere Stille« nennen, was wir aber auch mit »reines Glückseligkeitsbewusstsein«, SELBST oder »Zeuge« umschreiben können. Man nennt es Zeuge, weil Stille in unserer Bewusstheit unser Grundzustand ist, der, sobald er einmal eingerichtet ist, fähig ist, alle Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen unserer äußeren Welt als Objekte außerhalb der eigenen unbeweglichen Bewusstheit zu erfahren.

Die Gegenwart des Zeugen verändert die Beschaffenheit und Effektivität aller Selbst-Analysemethoden dramatisch, genauso wie unsere Wahrnehmung im alltäglichen Leben. Dann wird die Selbst-Analyse, die ein sich bewegendes Ziel war, stetig und wir selbst werden zu dem Wissen, nach dem wir gestrebt haben. Wir waren das schon immer und der Zeuge ist DAS. Es gibt das alte Sprichwort, dass das, was wir suchen, die Triebfeder hinter dem Suchen ist. Unsere innere Bewusstheit in Form des Zeugen ist sowohl das Ziel als auch das Mittel, dieses Ziel zu erreichen.

Den Zeugen können Menschen in sich kultivieren, indem sie sich mit Selbst-Analyse beschäftigen. Allerdings ist es sehr schwer, dies zu erreichen, wenn die Selbst-Analyse das einzige Hilfsmittel ist, das man nutzt. Frage nur einmal jemanden, der das ohne irgendeine unterstützende Übung versucht hat.

Ein viel effektiverer Weg, den Zeugen zu kultivieren, ist der mit täglicher tiefer Meditation (vgl. Lektion 13). Kommt es einmal dauerhaft zu dieser Art der Kultivierung, dann wird es der Selbst-Analyse möglich werden, in unserem Leben eine wirkliche Zugkraft zu erlangen und weitreichenden zusätzlichen Nutzen hinzuzufügen, der mit Meditation oder Selbst-Analyse alleine nicht möglich wäre. Sprechen wir von »Zugkraft«, dann meinen wir die Bildung einer intimen Beziehung zwischen dem uns angeborenen Bewusstsein und den Objekten dieser Welt, wozu auch unsere Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen der äußeren Umgebung gehören. Unser bleibender innerer Zeuge kombiniert mit der Selbst-Analyse kann uns stetig zu einem Zustand der Einheit, jenseits der Höhen und Tiefen des Lebens führen, auch wenn wir daneben ganz in unseren täglichen Aufgaben aufgehen. In diesem Zustand gibt es keine Gier oder Anhaften.

Sind wir also auf der Suche nach der wirklichen Selbst-Analyse, dann sollten wir jenseits der Vorgaben von strengen Philosophiesystemen zum inneren Funktionieren unseres eigenen Nervensystems schauen. Tun wir dies, dann wenden wir uns von Ideen ab, um alles selbst zu erfahren. Dann wird die Welle wissen, dass sie der Ozean ist, auch wenn sie als Welle weiterexistiert.

Philosophie ist deshalb kein Ende, sondern ein Anfang, ein Trittbrett zum größten Wissen, der anhaltenden direkten Erfahrung unserer wahren Natur – unser ewiges SELBST, göttliche Ausstrahlung, grenzenlose Bewusstheit, Glückseligkeitsbewusstsein, Leere, Nirvana, Tao oder wie immer du es benennen willst. Wirst du einmal zu dem, kannst du ihm jeden Namen geben, den du willst. Einige haben es auch »Reine Freude« genannt.

Der Guru ist in dir.

Über den Autor

Yogani

Yogani ist ein anonymer US Amerikaner, der 2003 begann, im Internet sein spirituelles Wissen in Form von Lektionen zu veröffentlichen und damit auf einen großen Kreis Interessierter weltweit traf. Im Laufe der Jahre entstand Daraus eine umfassende Bibliothek zu allen Aspekten des Yoga. Inzwischen gibt es viele Übersetzungen in andere Sprachen. Die Lektionen sind immer noch kostenlos abrufbar. Heute gibt es auch Bücher, Hörbücher, Ebooks und im Englischen eine PLus-Mitgliedschaft sowie ein gut besuchtes Forum.

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