Lektion 400 – Theorie und Praxis

Frage 1: Über die letzten sechs Monate habe ich mich zu einer ziemlich vollständigen FYÜ-Routine hochgearbeitet. Daraus haben sich viele Symptome der Reinigung ergeben. Z.B. erlebe ich Reinigung im Inneren meiner Augäpfel. Das versetzt mich in die Lage, dass ich auch von größerer Entfernung aus lesen kann (ich bin kurzsichtig).


Dann habe ich ein Kribbeln am unteren Ende meiner Kehle gefühlt. Das wurde wirklich intensiv. Und neulich war ich am Morgen mit meiner Arbeit beschäftigt und plötzlich war es mir, als ob sich die nervliche Verbindung des vorderen Kanals geschlossen hätte. Ich fühlte ein Kribbeln tief in meiner Nase und dann ein starkes Gefühl eines Sogs in meinem Perineum. Es zog im inneren des Körpers nach oben und ein riesiger Strom von Elektrizität floss die Wirbelsäule hoch. Das erreichte mein drittes Auge und ging dann vorne hinunter und war so intensiv und vergnüglich, dass ich von Furcht befallen wurde und mich gezwungen sah, meine Praxis zu beenden, bis ich verstehen würde, was da ablief..


Ich habe mich gefragt: (1) Was geht da genau vor? (2) Wann sollte ich die Praxis wieder aufnehmen?


Wie steht es um die Theorie dahinter, wie all diese Dinge funktionieren? Ich meine, ich verstehe den Ansatz: „lerne das Lenkrad zu steuern“, doch ich persönlich würde gerne wissen, „was sich da unter der Motorhaube abspielt“.


Zum Beispiel würde ich gerne in der Lage sein, das zu diagnostizieren, was im Augenblick geschieht und wie das mit den Übungen in Beziehung zu setzen ist. Von meiner Lektüre der FYÜ-Bücher her (und ich habe sie alle gelesen) kann ich sagen: „Oh, ich fühle eine leichte Unannehmlichkeit, ich sollte selbstabstimmen“. Das ist aber in Wirklichkeit keine Diagnose. Doch mit einem angemessenen theoretischen Hintergrund würde ich vielleicht ein besseres Verständnis dafür entwickeln, was sich da abspielt. 


In der buddhistischen Tradition finden sich „Landkarten des Fortschritts“. Dort wird detailliert eine Reihe von Erfahrungen aufgelistet, mit denen es der Meditierende zu tun haben kann und wie diese sich in das allgemeine Programm von Übungen einfügen.


Antwort 1: Das war ein energetisches Erwachen oder das Aufsteigen der Kundalini. Dass du deine Übungen zurückgefahren hast, war richtig. Doch es muss nicht alles oder nichts sein. Reduziere einfach die Übungszeiten, bis du zu einer stabilen und ausgeglichenen Routine gefunden hast, so dass du energetisch nicht hin und hergeworfen wirst. Die Steuerung der Übungen kombiniert mit guten erdenden Aktivitäten während der täglichen Beschäftigungen ist auf unserem Pfad wesentlich. Sieh in Lektion 69 nach. Dort findest du noch mehr Einzelheiten dazu, wie man mit übermäßigen Kundalini-Symptomen umgeht.


Es ist recht einfach, an Theorien, Philosophien und Landkarten heranzukommen. Jede Tradition hat sie. Sie werden von bestimmten Standpunkten aus, die auf den Erfahrungen von irgendjemandem basieren, ausgearbeitet. Das sind aber nicht notwendigerweise deine Erfahrungen. Die werden in mancher Beziehung die Gleichen sein und in anderer einzigartig. Aus diesem Grund versuchen wir bei den Fortgeschrittenen Yoga Übungen, die Theorie und die Landkarten so gering wie möglich zu halten. Wir markieren grundlegende Meilensteine, die auf das Aufkommen der bleibenden inneren Stille, auf die energetischen Komponenten der spirituellen Entwicklung sowie die Vereinigung dieser in Einheit (vgl. Lektion 35) hinweisen. Wie diese Komponenten entlang des Wegs auf dem Pfad eines jeden erfahren werden, kann variieren. 


Sobald die Übungen einmal auf den Weg gebracht sind und Symptome der Reinigung und Öffnung aufkommen, kann man solche Landkarten mit Erfahrungen ziemlich einfach zusammenzustellen. Jeder Heilige im Laufe der Geschichte, der andere unterrichtet hat, bot seine jeweilige Landkarte an. Theorien werden entweder bestätigt oder basierend auf unserer direkten Erfahrung beiseitegelegt. Die letztgültige Heilige Schrift liegt in uns.


Was weniger einfach ist, ist die Kartierung von Übungen auf eine Weise, dass es für viele Übende nützlich ist. Das haben wir uns bei den Fortgeschrittenen Yoga Übungen zum Ziel gesetzt. Wir lassen uns dabei von der Annahme leiten, dass, wenn die Erfahrung aufgrund von effektiven Übungen geliefert werden kann, die Theorien selbstevident sein werden. Sie werden sich aber, abhängig vom Muster der Reinigung und Öffnung, die ein jeder von uns durchläuft, voneinander unterscheiden. Allerdings gibt es da ein allgemein zugrundeliegendes Muster, das wir beschreiben können und das für jeden Gültigkeit besitzt. Dieses Muster kann sich an die Besonderheiten individueller Erfahrungen anpassen. Die Fortgeschrittenen Yoga Übungen richten sich nach diesem Muster und nicht nach einer präzisen erfahrungsbezogenen Landkarte. Es gibt in Wirklichkeit gar keine präzise Karte von Erfahrungen, die auf jeden passt. Meine detaillierte Karte und deine detaillierte Karte können sich voneinander unterscheiden. Das zu erkennen, ist der erste Schritt, wenn man etwas auf der theoretischen oder Kartierungsfront bereitstellen will, was für eine große Bandbreite von Übenden nützlich ist.


Wenn es da etwas theoretisch Solides bei den Fortgeschrittenen Yoga Übungen gibt (das vielleicht sogar etwas revolutionär ist), dann ist es das, dass das Nervensystem des Menschen als das Zentrum aller spirituellen Entwicklung und Erfahrung betrachtet wird. Alle Systeme, Philosophien, Theorien und Landkarten leiten sich von dieser einen Wahrheit ab. Absolut niemand wird da außen vor gelassen, weil ein jeder ein Nervensystem besitzt. Die Systeme, Philosophien, Theorien und Landkarten mögen sich, abhängig von Kultur, Religion und dem besonderen Prozess der auftretenden Entfaltung unterscheiden. Doch immer bleibt das Nervensystem des Menschen im Zentrum. Erkennt man dies und beherzigt es, kann das den Übenden von einer Menge unnötigem Gepäck befreien, das man vielleicht in der Form von – du hast es erraten – Systemen, Philosophien, Theorien und Plänen, angesammelt hat.


Es ist sehr einfach. Jeder von uns ist die Landkarte und wir brauchen nicht weiter als zu uns selbst zu blicken, um Antworten zu erhalten. Alles, was wir brauchen, sind effektive Übungen und solide Vorgehensweisen sowie unsere konsequente Anwendung. Dann wird uns der ganze Rest offenbart.


Ich verstehe, dass dramatische Erfahrungen, wie du sie durchlebt hast, manchmal das Vertrauen in Übungen erschüttern können. In Wahrheit sind all diese Erfahrungen Symptome der Reinigung und Öffnung. Es gibt ganz verschiedene Wege, wie sie sich durch unser Nervensystem manifestieren können. Wie sie sich für uns abspielen, hängt am Ende immer davon ab, wie wir die Geschwindigkeit der Reinigung und Öffnung steuern. Das ist es, was die Qualität unserer Reise bestimmt. Aus der Sicht der Fortgeschrittenen Yoga Übungen, geht es immer um die Verbesserung der Qualität unseres täglichen Lebens im Hier und Jetzt. Wir steuern unsere Übungen mit diesem Ziel, nicht um uns an eine Landkarte anzupassen oder an die Vorstellungen von jemand anderem, wie unsere Erfahrungen aussehen sollten.


Ist es besser zu erkennen, dass Selbstabstimmung und Erdung ausreichend für die Regulierung der Intensität unserer Erfahrungen sind oder ist es besser zu versuchen, diese Erfahrungen zu kartieren? Sollten wir beides machen? Ich denke, dass es besser ist, allgemein den zugrundeliegenden Prozess der Reinigung und Öffnung zu verstehen, der sich abspielt, als zu versuchen, die genauen inneren Dynamiken einer bestimmten Erfahrung zu verstehen. Das allgemeine Verständnis wird uns, wenn nötig, zur effektiven Selbstabstimmung und Erdung führen. Das Streben, die Einzelheiten einer besonderen Erfahrung zu verstehen, kann uns hingegen zum Versuch verleiten, mit kleinsten Anpassungen auf Symptome zu reagieren, sobald sie aufkommen. Wir wissen aber, dass die auf den Körper gerichteten Energietechniken usw., die wir dazu nutzen, nicht annähernd so gut funktionieren, wie die globaleren bzw. ganzheitlichen Techniken.


Du siehst also, dass hinter der Theorie versus Praxis Diskussion mehr steckt, als augenfällig ist. Es ist wesentlich, an die Theorie auf eine Weise heranzugehen, damit dadurch zu einer soliden Übungspraxis ermutigt wird. Die Gefahr bei detaillierten Plänen liegt darin, dass sie uns von einer soliden Praxis abbringen können. Je mehr wir in die Einzelheiten gehen, desto weniger effektiv wird unsere Praxis. Sind wir da nicht vorsichtig, haben wir bald eine ganze Tasche voll Auffassungen und Ablenkungen, statt unsere systematische Hingabe in Stille.


Es hört sich aber an, als würden sich bei dir gute Dinge tun und in relativ kurzer Zeit. Mach weiter mit der Selbstabstimmung der Übungen und Erdung in täglichen Aktivitäten, wie es für die Aufrechterhaltung eines stetigen Fortschritts im Laufe der Zeit nötig ist. Denke daran: Es gilt nicht, entweder die ganzen Übungen oder keine zu machen. Man kann die Übungszeiten schrittweise anpassen, bis man zu einem Gleichgewicht findet. Damit setzt man die Praxis vor die Theorie und erreicht die besten Ergebnisse.


Frage 2: Hast du schon einmal daran gedacht, ein Buch zu schreiben, in dem die Erfahrungen auf dem Weg zur Erleuchtung viel detaillierter aufgeführt sind? Siehst du einen Wert darin? Und wenn nicht, warum nicht? Nun, da ich erklärt habe, was ich unter „Theorie“ verstehe und warum ich mehr davon haben möchte, könntest du einige Empfehlungen geben, wo ich so ein theoretisches Wissen erhalten kann?


Antwort 2: Solange ein klares Verständnis für die grundlegende Aufgabe der Steuerung von Ursachen und Wirkungen in der spirituellen Praxis vorhanden ist, kann es von Wert sein, einen Rahmen von theoretischem Wissen zur spirituellen Transformation des Menschen aufzubauen, der zur praktischen Seite der Umsetzung passt. Doch das ist nichts, was ein oder zwei Personen leisten können – nicht einmal annähernd. Das wäre, wie wenn man die Gebrüder Wright bitten würde, die ganze Luftfahrttheorie aus ihrer Perspektive des frühen 20. Jahrhunderts zu dokumentieren. Das ist offensichtlich unmöglich. Doch sie demonstrierten, dass Flugzeuge fliegen können, und das war mehr als genug, um sie beschäftigt zu halten. Diese Arbeit war der Ausgangspunkt für die Revolution der Luftfahrt. Ich hoffe, dass es das ist, was die Fortgeschrittenen Yoga Übungen zur angewandten spirituellen Wissenschaft beitragen können. Wir demonstrieren, dass jeder mit dem entsprechenden Wunsch, sich mit Hilfe einer Reihe von einfachen, täglich praktizierten Übungen zu einem volleren und glücklicheren Leben öffnen kann.


Dazu eine sich entwickelnde und beständige wissenschaftliche Arbeit zu organisieren, mit einer soliden theoretischen Grundlage, ist eine Aufgabe für die weltweite Wissenschaftsgemeinde. Darüber sprechen wir auch in Diskussionen auf dem AYP-Support-Forum. Auf der ganzen Welt wird dazu bereits ziemlich viel geforscht. Allerdings braucht es noch mehr Fokussierung auf die wesentlichen Prinzipien der spirituellen Transformation des Menschen. Das entwickelt und beschleunigt sich jedoch.


Keine einzelne Person könnte eine umfassende Theorie der Medizin, Luftfahrt oder Elektronik entwickeln. Ohne Ausnahme haben immer einige die wichtigsten Prinzipien in der Praxis demonstriert und dann waren dadurch viele inspiriert, darauf aufzubauen, sowohl theoretisch als auch praktisch. Und so geht es ohne ein Ende weiter. Das ist der Weg der Wissenschaft. Wenn du also an der angewandten spirituellen Wissenschaft interessiert bist, dann gibt es da ganz viele Wege, dich einzubringen. Das geht aber hoffentlich nicht auf Kosten deiner täglichen Praxis.


Jenen, die Teil der Wissenschaftsgemeinde sind, sei empfohlen, sich die Ursachen und Wirkungen, die bei soliden spirituellen Übungen wirken, genauer anzusehen. Kein einzelner Mensch kann das alles leisten. Es liegt an jedem von uns und die Beurteilung der Erfahrungen von vielen im Zeitverlauf ist der Weg, wie wir die Theorie hinter den offensichtlichen Wirkungen von spirituellen Übungen weiterentwickeln können. Auf der theoretischen Seite erfordert es eine anhaltende Anstrengung der Wissenschaftsgemeinde, das voranzutreiben. Und auf der praktischen Seite liegt es an jedem einzelnen von uns, auf seinem Pfad der Reinigung und Öffnung mit vernünftiger täglicher Praxis weiterzugehen.


Kommen wir einmal mit der Erforschung voran, dann lasst uns aber nicht vergessen, dass es die Übungen sind, die die Ergebnisse hervorbringen, nicht die Theorie. Das Flugzeug kann auf dem Reißbrett noch so gut aussehen, wir werden nicht wissen, ob es wirklich fliegt, bis wir es bauen, einsteigen und abheben. Auf dem spirituellen Feld herrscht dieselbe Beziehung zwischen Theorie und Praxis.


Der Guru ist in dir.

Über den Autor

Yogani

Yogani ist ein anonymer US Amerikaner, der 2003 begann, im Internet sein spirituelles Wissen in Form von Lektionen zu veröffentlichen und damit auf einen großen Kreis Interessierter weltweit traf. Im Laufe der Jahre entstand Daraus eine umfassende Bibliothek zu allen Aspekten des Yoga. Inzwischen gibt es viele Übersetzungen in andere Sprachen. Die Lektionen sind immer noch kostenlos abrufbar. Heute gibt es auch Bücher, Hörbücher, Ebooks und im Englischen eine PLus-Mitgliedschaft sowie ein gut besuchtes Forum.

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