Lektion 330 – Selbst-Analyse und die Glieder des Yoga

Die Selbst-Analyse findet man in allen Systemen der spirituellen Entwicklung. Wo immer es Unterscheidung auf dem spirituellen Pfad gibt, da ist auch Selbst-Analyse vorhanden. Ob dies dann eine beziehungsvolle Selbst-Analyse ist oder nicht, ist eine andere Sache. Das ist aber die Kernfrage, die zu stellen ist. Ist der Zeuge da, wenn wir analysieren?

Einige Systeme der spirituellen Entwicklung sind von ihrer Natur her philosophisch (hauptsächlich intellektuell) und Lehrer verlegen sich vielleicht darauf, die Selbst-Analyse zur alleinigen Übung für das Aufrechterhalten der strengen Grundsätze derjenigen Philosophie zu machen. Das philosophische System des Vedanta ist eine von diesen. Der kompromisslose Standpunkt des Vedanta zur nicht-dualen (Advaita) Natur der Existenz und der Nichtexistenz der Welt lässt den Übenden vielleicht mit wenig Wahlmöglichkeit zurück. Er muss dann die Wahrheit der Nicht-Dualität anerkennen, ob er sie erfahren hat oder nicht …. oder einfach murmelnd davonlaufen.

Vedanta bedeutet »das Ende des Veda« (das Ende des Wissens). Es stützt sich auf indische heilige Schriften wie die Upanischaden und die Brahma Sutras, um die Nicht-Dualität der Welt zu beweisen. Die Schlussfolgerungen sind philosophisch vernünftig und werden vom durchschnittlichen Schüler unmittelbar verstanden. Vedanta verlässt sich genauso auf die Bhagavad Gita, um die Hauptaussage zu stützen, die Existenz sei von Natur aus nicht-dual, und deshalb erkennt man die Welt als unwirklich, selbst wenn man völlig in weltlichen Aktivitäten aufgeht. Schön und gut.

Interessanterweise findet das System und die Philosophie zur spirituellen Entwicklung, das als Yoga bekannt ist, ihre Bestätigung in denselben alten Schriften, auch wenn man Yoga oft als duales und nicht als nicht-duales System betrachtet. Yoga pflichtet auch den Yoga Sutren Patanjalis bei und hat sogar seinen Ursprung in diesen. Darin wird eine ganze Bandbreite von Übungen vorgeschrieben, die so konstruiert sind, dass sie genau diesen Zustand der Nicht-Dualität (Einheit) hervorbringen sollen, den Vedanta als die ultimative Wahrheit ansieht.

Die übrigen Systeme der indischen Philosophie und der spirituellen Entwicklung können je zur Hälfte den dualen und nicht-dualen Ansätzen zugerechnet werden. Es gibt insgesamt sechs Systeme (mehr oder weniger, je nachdem, wer die Zählung durchführt). All diese Systeme erkennen die einheitliche Natur der Existenz an, genauso wie das die Quantenphysik der Sekundarstufe heutzutage tut.

Dies wirft die Frage auf: Wenn alle Systeme die nicht-duale Natur der Existenz als gegeben anerkennen, welcher Ansatz ist dann der Richtige?

Die Antwort lautet: Das hängt davon ab, nach was du suchst. Nicht so oft wird vorschlagen, man solle alle Systeme und ihre Methoden zusammen anwenden, um den Effekt zu maximieren. Löst man die Grenzen zwischen ihnen auf, dann kann man die Beste aller Welten erkennen – Einheit. Dies wird für jene mit einer sektiererischen Ader nicht einfach sein, was wiederum für jene, die sich als eiserne Nicht-Dualisten ansehen, ein Paradox ist. Wie kann mit dieser Sichtweise irgendetwas getrennt sein? Notwendigerweise müssen Sektierer zuerst Grenzen überwinden, bevor sie die Wahrheit erkennen können, denn die Wahrheit lebt in allen.

Yoga leidet nicht unter derartigen Konflikten und umfasst glücklich alle Philosophien und Systeme spiritueller Übungen, die zu den besten Ergebnissen führen. Zumindest gehen so die effektivsten Yoga-Systeme vor.

Patanjali hat in seinen berühmten Acht Yoga-Gliedern die Yoga-Philosophie so vollständig ausgebreitet, dass diese in der Lage ist, Ansätze zur Kultivierung des Prozesses der menschlichen spirituellen Transformation aus ganz verschiedenen Blickwinkeln zu beherbergen. Vielleicht hat er das gar nicht beabsichtigt, doch seine alles umfassende Lehre, welche die ganze Bandbreite von Fähigkeiten zur spirituellen Transformation im menschlichen Nervensystem reflektiert, hat sich als kompatibel mit einer Vielzahl von Strategien und Systemen erwiesen. Die acht Glieder bilden eine gute Checkliste, wenn man die Vollständigkeit irgendeines Systems von spirituellen Übungen untersuchen möchte.

Zu den acht Yoga-Gliedern Patanjalis zählen:
Yama (Verbote – Gewaltlosigkeit, nicht stehlen, keine Unwahrheit, Erhaltung und Kultivierung der Sexualenergie und keine Habsucht)
Niyama (Gebote – Reinheit, Zufriedenheit, spirituelle Intensität, Studium spirituellen Wissens und des Selbst und aktive Hingabe an das Göttliche)
Asanas (Körperstellungen und Manöver mit dem Körper)
Pranayama (Atemtechniken)
Pratyahara (das nach innen Kehren der Sinne)
Dharana (systematische Aufmerksamkeit auf ein Objekt)
Dyana (Meditation – systematisches Auflösen des Objekts)
Samadhi (Absorption in reines Bewusstsein)

Anmerkung: vergleiche dazu auch Lektion 149.

Es gibt noch eine zusätzliche Kategorie von Übungen namens Samyama, die eine Integration der letzten drei Glieder von Yoga – Dharana, Dhyana und Samadhi – bildet. Die Mechanismen von Samyama sind eng mit der Ausführung von beziehungsvoller Selbst-Analyse, dem Aufgreifen einer Absicht/Analyse und dem Loslassen in die Stille verbunden. Meditation kultiviert den bleibenden Zeugen und Samyama belebt den Zeugen auf eine Weise, dass die Effektivität der Selbst-Analyse gefördert wird.

Selbst-Analyse tritt in Form des Studiums von spirituellem Wissen und des SELBST (genannt Jnana Yoga) als Bestandteil der Niyamas (Gebote) auf. Außerdem ist sie in alle acht Glieder in Form des Unterscheidungsvermögens eingewoben, dass man jeweils die besondere Art der Übung allen Arten von Erfahrungen, die sich einstellen können, vorzieht. Zusammengenommen als systematische Integration von Übungen bringen die Yoga-Methoden die Erkenntnis derselben Wahrheit der nicht-dualen Einheit, wie sie im Advaita-Vedanta dargelegt wird. Das erreicht man durch die Förderung eines schrittweisen Prozesses der Reinigung und Öffnung im menschlichen Nervensystem, was zu dessen höchster Ausdrucksform, bleibender innerer Stille, ekstatischer Glückseligkeit und der Einheit von ausfließender göttlicher Liebe führt. So wird also alles, was über Nicht-Dualität geschrieben worden ist, zur direkten Erfahrung des Übenden – unabhängig von System oder Ansatz. Alleine darauf kommt es an.

Ungeachtet seiner überzeugenden Logik könnte ein mehrgleisiger Ansatz von Ursache und Wirkung, wie Yoga das ist, einen aufrichtigen Nicht-Dualisten zusammenzucken lassen. Doch wie dies bereits in früheren Lektionen diskutiert wurde, ist die Kultivierung von zumindest ein wenig des bleibenden inneren Zeugen durch die tiefe Meditation eine weise Herangehensweise, wenn es zu einer wirklichen (beziehungsvollen) Selbst-Analyse kommen soll. In der Terminologie der acht Yoga-Glieder ist der Zeuge in den täglichen Aktivitäten der Zustand eines bleibenden Samadhi (reines Bewusstsein). Dafür gibt es aber viele Namen. Wir erkennen den Zeugen, sobald wir ihn sehen und sobald wir er sind. Eine Rose bleibt eine Rose, auch wenn man sie anders nennt. Er ist der wesentliche Bestandteil der Selbst-Analyse und Erleuchtung. Wo kein bleibender Zeuge da ist, kann auch keine beziehungsvolle Selbst-Analyse da sein. Wo keine beziehungsvolle Selbst-Analyse vorhanden ist, kann auch keine stabile Erfahrung der nicht-Dualität bzw. Einheit vorhanden sein. Bevor wir das erreichen, tippen wir vielleicht einmal in die Nicht-Dualität, verlassen sie dann aber wieder. Das Wahre erreichen wir erst, wenn der Zeuge soweit zu einer stabilen Erfahrung geworden ist, dass er niemals von unserem emotionalen Denken überwältigt wird. Deshalb ist die Meditation so wichtig, auch für fortgeschritten Übende der Selbst-Analyse und besonders für Anhänger des Advaita-Vedanta, wenn sie Schwierigkeiten haben, die Selbstverwirklichung zu stabilisieren. Dies ist heutzutage ein weitverbreitetes Problem, da so viele von der Nicht-Dualitätserfahrung kosten.

Es gibt noch eine energetische Komponente der Nicht-Dualität bzw. Einheit, wie sonderbar dies auch erscheinen mag. Jene, die in die Nicht-Dualitätserfahrung eingetreten sind, wenn auch nur ein wenig, merken, dass da eine große Dynamik am Werk ist. Die Stille bewegt sich ständig, schimmert, glänzt und belebt die Handlungen der ganzen Schöpfung und dies wird besonders offensichtlich, wenn man einmal fähig ist, in den Einheitszustand loszulassen. Hat man die Grundlagen unzureichend gelegt, kann die Energieerweckung dramatisch und beunruhigend sein. Dann muss man sich damit mit den geeigneten Mitteln auseinandersetzen, bevor der Nicht-Dualitätszustand stabilisiert werden kann. Dies ist die energetische (Kundalini-)Seite der Gleichung und diese spielt bei der Selbst-Analyse auch eine Rolle. Wir werden uns in einer zukünftigen Lektion eingehender damit auseinandersetzen. Die Energiedynamik erlaubt der inneren Stille, sich als unendliche ekstatische Glückseligkeit und ausfließende göttliche Liebe auszudrücken, auch wenn wir entdecken, dass die Essenz unseres Selbst unerschütterlich ist und ihren Sitz überall, wohin wir schauen, in der Einheit hat.

Bevor wir jedoch zu so einer befreiten Sichtweise gelangen, ist es möglich, dass wir in die Schlacht um Ideen, Doktrinen und Dogmen abdriften, obwohl das nicht so sein muss, wenn man die entscheidenden Hebel der menschlichen spirituellen Transformation zu bedienen weiß. Dann wird sich die Schlachtlinie im menschlichen Geist schnell verflüchtigen.

Genauso wie es Menschen gibt, die Advaita-Vedanta unbeugsam vertreten (ist dies Nicht-Dualität?), gibt es im Bereich des Yoga jene, die auf eine einzige Übungsweise oder auf andere enge Ansätze mit Ausschluss des ganzen Rests von Yoga bauen. Da macht sich das Hochfliegen der Fantasie selbstständig, wie wir dies schon in Lektion 308 erörtert haben.

Man kann leicht in einem Modus mit geringem Fortschritt stecken bleiben, wenn man im Yoga, Advaita Vedanta oder jedem anderen Ansatz der spirituellen Verwirklichung eine enge Sichtweise einnimmt. Dies sind Sichtweisen, durch die man sich selbst beschränkt. Man ist dadurch in einem Verstandesfeld festgenagelt, das im Grunde Dualität ist, gleich wie »nicht-dual« die Argumente philosophisch sein mögen. Solange wir es mit einem Namen bezeichnen, befindet es sich im Bereich der Dualität.

Es erfordert eine flexible Integration von Methoden, um den Schleier von Vorstellungen, Emotionen und wahrgenommener Materialität vor uns durchdringen zu können, damit man dauerhaft die ewig leuchtende Realität, die dem allen zugrunde liegt, d.h. unser SELBST, erkennen kann. Genauso wie eine weite Sichtweise auf die Systeme indischer Philosophie von Vorteil sein kann, so wird auch eine breite Anwendung der Yoga-Methoden wahrscheinlicher zu Ergebnissen führen, als eine enge Sichtweise. Dies schließt die Selbst-Analyse ein, sowohl in der Ausführung der praktischen Yoga-Techniken, als auch in der anhaltenden Nachforschung, wer wir sind, und was wir hier tun. Wir sind DIES, was jenseits des Verstands und all der Identifizierungen des Wahrnehmungsbewusstseins, in die wir verstrickt sind, liegt. Sind wir fähig in unsere bleibende innere Stille hinein loszulassen, werden wir wissen, was es ist. Unsere Bewusstheit ist DAS.

Dies stimmt mit der Proklamation des Advaita-Vedanta überein: der direkten Erkenntnis der nicht-dualen Natur der Existenz. Mit einem anhaltenden Wunsch (Bhakti) unsere eingebildeten Begrenzungen sowohl bei der Wahrnehmung als auch bei den Übungen fallen zu lassen und einer Bereitwilligkeit die ganze Bandbreite der uns zur Verfügung stehenden Yoga-Werkzeuge zu nutzen, um uns dabei zu helfen, sind wir auf dem richtigen Weg. Man muss sich nur darüber klar werden, welche Methoden man sinnvollerweise anwendet und in welcher Reihenfolge. Vieles davon hängt von persönlichen Präferenzen ab und von einer logischen Anwendung von Ursachen und Wirkungen, um herauszufinden, was für einen selbst am besten funktioniert.

Der Guru ist in dir.

Über den Autor

Yogani ist ein anonymer US Amerikaner, der 2003 begann, im Internet sein spirituelles Wissen in Form von Lektionen zu veröffentlichen und damit auf einen großen Kreis Interessierter weltweit traf. Im Laufe der Jahre entstand Daraus eine umfassende Bibliothek zu allen Aspekten des Yoga. Inzwischen gibt es viele Übersetzungen in andere Sprachen. Die Lektionen sind immer noch kostenlos abrufbar. Heute gibt es auch Bücher, Hörbücher, Ebooks und im Englischen eine PLus-Mitgliedschaft sowie ein gut besuchtes Forum.

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