Lektion 322 – Der Zeuge – die der Selbst-Analyse zugrunde liegende Ursache
Obwohl wir vielleicht oft zu hören bekommen, dass die Erleuchtung ein absoluter Zustand sei, den man durch den Einsatz absoluter Mittel augenblicklich erreichen könne, bleibt dies für fast alle Menschen reine Fiktion. Denn es ist zwar eine attraktive Vorstellung für den Verstand, man könnte sogar sagen, diese Vorstellung ist intellektuell und emotional verführerisch. Dennoch bleibt es eine Fiktion. Nimmt man ein derartiges Denken zu ernst, kann uns das zu eindimensionalen und extremen Ansätzen führen, die unseren spirituellen Fortschritt verzögern, anstatt ihn zu beschleunigen.
Es gibt aber einen Mittelweg.
Sobald wir zur Einsicht gelangen, dass die Erleuchtung kein augenblickliches Ereignis, sondern eine Reise ist, die zu keinem Ende kommt, öffnen wir uns den Möglichkeiten und praktische Strategien werden uns von allen Seiten offenbart. Es ist erstaunlich, wie dies funktioniert. Bleiben wir offen, merken wir, dass eine intelligente Integration von effektiven Methoden uns zur Einsicht dessen verhelfen kann, was wir immer gesucht haben, und das mit viel weniger Schwierigkeit. Paradoxerweise ist der vielfältige Pfad der Pfad, auf dem man am wenigsten zu tun hat und ganz bestimmt der, auf dem man am wenigsten Angst hat. Dies ist das große Geheimnis des Yoga.
Kann das so einfach sein?
Bei den Fortgeschrittenen Yoga Übungen wird die Selbst-Analyse oder Selbst-Erforschung auf natürliche Weise Stück für Stück in unsere umfassende Praxisroutine und in die sich daraus ergebende spirituelle Entfaltung unseres Lebens integriert. Selbst-Analyse ist das, was uns als Handlungsoption zur Verbesserung unseres tagtäglichen Lebens zwischen unseren zweimal täglichen Sitzungen mit strukturierten Übungen zur Verfügung steht. Die Selbst-Analyse dieser Art ist für uns weniger strukturiert und dafür höchst individuell. Sie kann uns zu unterschiedlichen Zeiten zu unterschiedlichen Lehren führen.
Eklektisch zu sein ist von Vorteil. Jedoch gibt es verschiedene Anwendungsebenen bei der Selbst-Analyse, die man hauptsächlich deswegen verstehen muss, damit wir sie mit unserem eigenen spirituellen Fortschritt in Einklang bringen und die unzumutbaren Kämpfe infolge Steckenbleibens vermeiden können. Es ist wichtig, unsere Übungen so abzustimmen, damit wir die Veränderungen assimilieren können, die sich in unserem Inneren ergeben. Dies gilt für die Selbst-Analyse genauso wie für jede andere Übung, die wir nutzen. Dies werden wir in den folgenden Lektionen untersuchen.
Wir gehen bei unserem Ansatz systematisch vor, doch geben wir keine Kochbuchanweisungen für die Selbst-Analyse. Auf dem spirituellen Markt gibt es bereits genügend Kochbuch-(Rezept-)Ansätze. Die wirkliche Selbst-Analyse geht über die Methoden des Verstandes hinaus. Sie bewegt sich im Reich des Zeugen. Deshalb wird unsere Praxis mehr von unserer inneren Entfaltung bestimmt, als von irgendeinem mentalen Ansatz, den wir anwenden mögen.
Unsere innere Entfaltung ist die Ursache für Verfeinerungen in den mentalen Vorgehensweisen, nicht andersherum. Dies ist unter der Annahme, dass wir es mit den zugrunde liegenden Prinzipien der menschlichen spirituellen Transformation und der Integration von jahrhundertelang erprobten Techniken zu tun haben, ein progressiver und sicherer Ansatz zur spirituellen Entwicklung. Wir werden vieles machen, um in der Stille unserer inneren Bewusstheit nichts zu tun.
Das vornehmliche Ziel der Selbst-Analyse ist es, in der bedingungslosen inneren Stille, die uns allen innewohnt, und die wir in Wirklichkeit sind, souverän verankert zu bleiben. Wir sind dieser Erfahrende: der Zeuge aller Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen des Körpers und äußerer Phänomene. Die Selbst-Analyse hat das Ziel, alle Identifizierung des Bewusstseins mit all diesen Wahrnehmungen, die für unser bedingungsloses Bewusstsein nur äußerlich sind, aufzulösen.
Die traditionelle Weisheit beharrt darauf, dass die bleibende Gegenwart des Zeugen (bedingungslose Bewusstheit) die Folge der Selbst-Analyse ist. Unter bestimmten Voraussetzungen, kann dies der Fall sein, und das ist auch das Ziel für all jene, die sich ausschließlich der Selbst-Analyse als Mittel zur Selbstverwirklichung bedienen. All die unterschiedlichen Strategien (mentale Algorithmen) der Selbst-Analyse dienen der Erkenntnis von DEM.
Allerdings stimmt es auch, dass die Anwesenheit des stillen Zeugen die Ursache der Selbst-Analyse ist, und dies ist eine grundlegendere Wahrheit. Ein Sein ist grundlegender als alles Tun, das wir uns vorstellen können. Ist der Zeuge da, wird eine natürliche Neigung zur Selbst-Analyse offensichtlich. Der Verstand folgt DEM ganz einfach nach. Der dem Übenden innewohnende Zustand des Zeugeseins wird zur Antwort auf jede Nachforschung – die ewige Stille, die nichts tut, auch wenn das Leben in all seiner Vielfalt und mit uns als engagierte Akteure in einem erleuchteten Zustand weitergeht.
Ist der Zeuge einmal da, wird die Selbst-Analyse zum Automatismus. Der Zeuge ist sowohl der Treibstoff wie auch das Ziel der Selbst-Analyse. Die Selbst-Analyse ohne bleibende innere Stille (Zeuge) ist wie ein Haus ohne Fundament oder wie ein in die Luft gebautes Schloss. Jene, die sich auf die Selbst-Analyse ohne zumindest etwas Erfahrung mit der Meditation einlassen, wissen wie das aussieht. Das macht nicht lange Spaß.
Deshalb trachten wir bei den Fortgeschrittenen Yoga Übungen zuerst nach der Kultivierung des Zeugen und nehmen dazu die effektivsten Mittel zu Hilfe, die uns zur Verfügung stehen. Wir beginnen damit, unsere Übung der täglichen tiefen Meditation einzurichten (vgl. Lektion 13). Damit stellen wir sicher, dass all unsere Bemühungen in der Selbst-Analyse fruchten und wir ständig die Wahrheit erkennen. Wir begeben uns damit auf den Pfad, das zu werden, was wir suchen. Mit einer klaren Anerkennung dieser »Ursache-Wirkung-Beziehung« und mit der Kultivierung des Zeugen als Ursache finden wir uns in einer zunehmend vorteilhaften Position wieder, sodass wir uns jedem System der Selbst-Analyse mit gutem Erfolg widmen können.
Der Guru ist in dir.
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