Lektion 335 – Die Rolle des Verlangens bei der Selbst-Analyse

Auf welchem spirituellen Pfad wir uns auch immer befinden, er wird seinen Ursprung und die dafür ständig benötigte Erhaltungskraft in unserem Verlangen haben. Unsere Sehnsucht nach Wahrheit und eine Bereitschaft, unserer Sehnsucht mit Taten zur Erfüllung zu verhelfen, ist die tiefere Ursache von allem anderen, das sich auf unserem Pfad ereignet.

Es wurde gesagt, dass alle Wünsche gestillt sein müssen, bevor man die Erleuchtung erlangen kann. Das entspricht nicht ganz der Wahrheit. Ohne ein spirituelles Verlangen kann es keinen spirituellen Pfad geben und auch keine Übungen irgendeiner Art. Auch wenn wir die Notwendigkeit von Übungen rundweg ablehnen und meinen, mit Selbst-Analyse alleine auszukommen, wird immer noch ein Wunsch nach Wahrheit notwendig sein, um uns bei der Stange zu halten.

Das Verlangen in Bezug auf den spirituellen Pfad wird oft missverstanden, besonders auf dem Gebiet von Advaita-Vedanta (Nicht-Dualität). Gelangen wir zu einer unmittelbaren Erkenntnis der Wahrheit dessen, was wir sind, geht damit tatsächlich ein Schwinden unserer Wünsche nach vergänglichen Dingen dieser Welt einher. Ein Rückgang dieser Art von Wünschen ist aber Wirkung und nicht die Ursache – ein Schwanz am Hund der ansteigenden Erkenntnis. Auch wenn unsere weltlichen Wünsche weniger werden, wird unser spirituelles Verlangen in gleichem Maße zunehmen. Manche mögen behaupten, die Zunahme geschehe exponentiell. Bei der Erleuchtung handelt es sich also nicht um das Aufhören aller Wünsche. Vielmehr geht es um die natürliche Transformation der Wünsche hin zu höheren Wahrheiten, bis alles Verlangen in der Wirklichkeit der Einheit aufgelöst wird, die man als ein nicht endendes Ausströmen göttlicher Liebe erfährt. Dann sind unsere Wünsche zu einem Synonym für göttliches Verlangen geworden, das in dieser Form bestehen bleibt …

Ein absichtlicher Wunsch nach Erkenntnis der Wahrheit ist nicht nur nützlich, sondern sogar essentiell. Richtet man einen Wunsch hin zu einem selbstgewählten hohen Ideal, und erhält man diesen aufrecht, nennt man das Hingabe. In der Terminologie des Yoga heißt das Bhakti. Wir können dazu auch aktive Hingabe sagen: Wir widmen uns in unseren Handlungen des täglichen Lebens unserem höchsten Ideal.

Neben der offensichtlich motivierenden Kraft der Hingabe, die uns dazu inspiriert, auf unserem spirituellen Pfad in Richtung Verwirklichung in Aktion zu treten, liegt in der Hingabe noch eine angeborene Kraft der Transformation, die auf direktem Wege eine innere Reinigung und Öffnung stimuliert, unabhängig von irgendwelchen anderen Handlungen, die wir ergreifen. Mit anderen Worten: Hingabe alleine hat die Kraft, uns zur Wahrheit zu öffnen, vorausgesetzt das Ideal unserer Hingabe greift über das hinaus, wo wir uns heute befinden. Diese natürliche Eigenschaft der Hingabe ist der Grund dafür, warum diese spirituelle Übung in allen Religionen der Welt die weiteste Verbreitung findet. Hingabe an ein hohes spirituelles Ideal (eine göttliche Persönlichkeit, ein Kultobjekt, einen Zustand oder ein Denkmodell) bildet den Kern allen spirituellen Fortschritts, ob man noch zusätzliche Methoden anwendet oder nicht. Dies ist auf dem Pfad der Selbst-Analyse, die zu einer unmittelbaren Erkenntnis der Nicht-Dualität – d.h. der Einheit – führt, genauso wahr.

Natürlich beschleunigt sich die Geschwindigkeit unserer Transformation hin zur Verwirklichung, sobald wir beginnen, zusätzliche effektive Methoden in unser spirituelles Verlangen zu integrieren. Tatsächlich ist es die Hingabe selbst, die uns zu den zusätzlichen Mitteln hinführt. Hingabe erhöht die Effektivität aller angewendeten Mittel, ob es sich um die tiefe Meditation, Selbst-Analyse oder irgendwelche andere spirituellen Übungen handelt.

Auch wenn wir also einen äußerst orthodoxen Ansatz der Selbst-Analyse wählen (wenn wir also alle anderen Formen von Übungen ablehnen, um uns alleine auf die Nicht-Dualität zu konzentrieren) können wir nicht abstreiten, dass es unser auf eine Ebene von nicht endender Hingabe an unser höchstes Ideal (Bhakti) gehobenes Verlangen ist, das letztendlich verantwortlich für unser Weiterkommen zeichnet. In der absoluten Advaita-Vedanta-Tradition sind die Worte »Verlangen«, »Hingabe« und »Bhakti« nur selten Bestandteil des Sprachgebrauchs. Stattdessen benutzt man die Eigenschaften unerschütterliche »Integrität«, »Einsatz«, »Treue«, »Ernsthaftigkeit« usw., um diese wesentliche Komponente auf dem Pfad zu umschreiben. Es handelt sich jedoch um ein und dasselbe Phänomen, ohne das die Selbst-Analyse hohl ist. Glücklicherweise ist der Besitz dieses wesentlichen Feuers im Herzen ein Aspekt des aufkommenden Zeugen, und deshalb betonen wir die Bedeutung der beziehungsvollen Selbst-Analyse (vgl. Lektion 325). Die Gegenwart des bleibenden Zeugen bringt all die Voraussetzungen für eine effektive Selbst-Analyse mit sich, einen immer weiter sich ausdehnenden Fluss von spirituellem Wunsch eingeschlossen.

Es gibt da etwas, das uns zur letztendlichen Freiheit der Erkenntnis unserer nicht-dualen Natur führt. Dieses Etwas ist ein Verlangen, das man bis auf die Ebene der Hingabe (Bhakti) veredelt hat. Es ist die vereinigende Kraft der göttlichen Liebe, die unsere Stille absondert und die uns zu all den Handlungen führt, die die lebendige Wahrheit in uns entfalten.

In zukünftigen Lektionen werden wir uns genauer ansehen, wie Bhakti unsere Handlungen auf dem Pfad und unsere spirituelle Entwicklung befeuert.

Der Guru ist in dir.

Über den Autor

Yogani

Yogani ist ein anonymer US Amerikaner, der 2003 begann, im Internet sein spirituelles Wissen in Form von Lektionen zu veröffentlichen und damit auf einen großen Kreis Interessierter weltweit traf. Im Laufe der Jahre entstand Daraus eine umfassende Bibliothek zu allen Aspekten des Yoga. Inzwischen gibt es viele Übersetzungen in andere Sprachen. Die Lektionen sind immer noch kostenlos abrufbar. Heute gibt es auch Bücher, Hörbücher, Ebooks und im Englischen eine PLus-Mitgliedschaft sowie ein gut besuchtes Forum.

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