Lektion 122 – F&A – Zeugenschaft

Frage: Seit langem mache ich einen Prozess durch, in dem ich mich einfach nicht mit dem Körper identifiziere. Ich identifiziere mich nicht mit den Emotionen oder Gefühlen. Etwas anderes fühlt sie, nicht ich. Manchmal merke ich, dass ein Gefühl hochzukommen versucht, aber ich weiß einfach nicht, was ich damit anfangen soll. Deshalb ignoriere ich es und es verschwindet. Meine Großmutter ist vor zwei Wochen verstorben und das hat mich nicht im Geringsten betrübt. Ich muss die einzige gewesen sein, die bei der Beerdigung lächelte oder sagen wir lieber, die die meiste Zeit versuchte, nicht zu lächeln. Ich glaube, dass meine Katze, die alles für mich ist, mein bester Freund … mein Gefährte, meine Liebe … stirbt oder langsam stirbt und das stört mich einfach nicht. Ich mach mir Gedanken und bin ein bisschen beunruhigt, ja, aber ich bin nicht geplagt. Das verändert die Dinge draußen, doch nicht im Inneren. Ich kann die Treppe hinunterfallen und dabei lachen, ich mach mir nichts draus. Man könnte mich von meinem Arbeitsplatz feuern, ohne dass ich mir um irgendetwas in der Welt Sorgen machen würde. Ich hänge einfach an nichts. Seit kurzem meine ich sogar, die Identität mit meinem Namen verloren zu haben. Es verletzt mich fast, eine E-Mail oder einen Beitrag mit meinem Namen unterzeichnen zu müssen. Ist dies normal und etwas anderes als Pratyahara? Gibt es dabei Stadien, damit ich mich auf das, was als nächstes kommt, etwas vorbereiten kann?

Antwort: Vielen Dank für Dein Schreiben und die Bereitschaft zu teilen.

Die Antwort hängt von Deinem wirklichen Zustand ab und das wiederum hat damit zu tun, wie Du dahin gelangt bist. Hast Du regelmäßig meditiert und fühlst Du die Trennung als stiller Zeuge, ist das eine Sache. Hast Du Dich vom Leben und der Welt auf Grund eines Traumas in der Vergangenheit in Form eines psychologischen Abwehrmechanismus losgesagt, ist das etwas anderes. Das erstere ist die Folge von Reinigung im Nervensystem. Das letztere ist ein Kopf-in-den-Sand-Stecken der Bewusstheit, um damit unterbewusste Blockaden zu vermeiden, die sehr viel Schmerz verursachen. Das eine ist letztendlich ein Öffnen zur Welt. Beim anderen verschließt man sich der Welt. Sie können als ähnlich erscheinen, sind es aber nicht. Unter besonderen Umständen kann es sogar sein, dass beide zur selben Zeit auftreten.

Handelt es sich um das Aufkommen innerer Stille in Folge der Reinigung im Nervensystem, dann wäre es geboten, sich mit spiritueller Praxis zu beschäftigen und sich in der Welt zu betätigen. Letztendlich geht es bei der Erleuchtung nicht um uns. Es geht um alle anderen. Die erste Stufe der Erleuchtung ist ein Aufkommen fortwährender innerer Stille – eine zeitweilige Trennung. Bei der zweiten und dritten Stufe geht es um die Verbindung mit dem Göttlichen, das dynamisch in uns und in anderen aufsteigt (hier kommen die Ekstase und Pratyahara ins Spiel, nicht viel früher). Über die erste Stufe (innere Stille/Zeuge) hinauszugehen, bedeutet nicht, träge zu werden und nichts mehr zu tun. Es beinhaltet das Aufsteigen von Hingabe und die Einbringung unseres reinen Glückseligkeitsbewusstseins in den weiteren Prozess der Erleuchtung und dazu gehören das Ausführen spiritueller Übungen und das Sich-tätig-einbinden-in-die-Welt. Das ist eine natürliche Entwicklung, zu der jedoch auch unsere bewusste Entscheidung zur Teilnahme gehört.

Vorschlag: Wenn Emotionen hochkommen, ignoriere sie nicht, sondern bemühe dich vielmehr um die Einleitung eines Bhakti-Prozesses. Dieser wurde in Lektion 67: Bhakti – Die Wissenschaft der Hingabe und nachfolgenden Lektionen, die auf die genaueren Einzelheiten der Zeugenschaft und Bhakti eingehen (besonders Lektion 109 – Bhakti, Meditation und innere Stille), beschrieben. Dort findest Du einige Hinweise, wie Du die Stufe der Zeugenschaft besser nutzen kannst, um damit zu weiteren Stufen überzugehen. Die Schlüssel-Dynamik dazu liegt in der Beziehung zwischen Zeugenschaft und den Gefühlen. Reines Glückseligkeitsbewusstsein, der stille Zeuge, bleibt unbeeinflusst von der phänomenalen Welt. Dieser Zustand ist jedoch nicht ohne Empathie – im Gegenteil. Innere Stille ist eine unerschöpfliche Quelle von Liebe und Mitgefühl und nötigt uns auf ganz natürliche Weise, aktiv die ekstatischen Prozesse in unserem Körper zu unterstützen und gleichzeitig anderen in liebender Hingabe zu dienen. Wir können auf der Stufe der Zeugenschaft sogar verärgert werden und auch weinen – dabei fährt das Nervensystem fort, sich zu reinigen. Obwohl der stille Zeuge der höchste unbewegte Beobachter ist, ist das Spiel der Erleuchtung kein Sport, bei dem man nur zuschaut. Das ist eines der Paradoxe im spirituellen Leben. Bevor das reine Glückseligkeitsbewusstsein in jedem Atom unserer Existenz völlig gegenwärtig ist und sich beständig mit den ekstatischen Prozessen der Schöpfung verbindet (im göttlichen inneren Sexualakt), kann die Erleuchtung nicht zur Vollendung kommen. Wollen wir zu höheren Stufen der Erleuchtung gelangen, müssen wir uns aktiv dafür einsetzen.

Deshalb wäre mein Vorschlag für Dich, dass Du nachforscht, ob Du nicht einen Wunsch in Dir findest, über den Zustand, in dem Du Dich derzeit befindest, hinauszuwachsen und diesen Wunsch zu pflegen. Jedes beliebige Verlangen kannst Du dazu hernehmen, weil Du in der Stufe der Zeugenschaft leicht Emotionen in Bhakti umwandeln kannst, wenn Du Dich dazu entschließt. Bist du dazu in der Lage, kultiviere das. Dann wird es leicht für Dich sein, etwas zu unternehmen – etwas tägliche Übungen, etwas Dienst, etwas für jemand anderen tun. Ist es für Dich schwierig, Dich zu „engagieren“, dann ist die Situation möglicherweise psychologisch komplizierter, als das für einen durch spirituelle Übungen im Nervensystem angeregten Prozess der Reinigung kennzeichnend ist. Manchmal kann es aber auch in der Stufe der Zeugenschaft (oder jeder anderen Stufe) zu etwas Verzagtheit kommen und wir müssen unsere Zeit einfach etwas aussitzen – ein Art von Heilungsprozess, der uns in einen neuen Seinszustand führt. Fühlen wir uns einmal wohl in dem Zustand, in dem wir uns befinden, wird sich mehr Interesse für das Weitergehen in den nächsten Zustand einstellen.

Was immer die unserer Zeugenschaft zugrunde liegende Ursache ist: Es wird nicht schaden, täglich zu praktizieren – besonders Meditation und Pranayama. Früher oder später werden die Dich auf ganz natürliche Weise zur nächsten Stufe bringen.

Ich wünsche Dir auf dem von Dir gewählten Pfad allen Erfolg.

Der Guru ist in Dir.

Über den Autor

Yogani

Yogani ist ein anonymer US Amerikaner, der 2003 begann, im Internet sein spirituelles Wissen in Form von Lektionen zu veröffentlichen und damit auf einen großen Kreis Interessierter weltweit traf. Im Laufe der Jahre entstand Daraus eine umfassende Bibliothek zu allen Aspekten des Yoga. Inzwischen gibt es viele Übersetzungen in andere Sprachen. Die Lektionen sind immer noch kostenlos abrufbar. Heute gibt es auch Bücher, Hörbücher, Ebooks und im Englischen eine PLus-Mitgliedschaft sowie ein gut besuchtes Forum.

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