Lektion 411 – Weniger ist mehr
Der spirituelle Pfad ist voller Widersprüche und Paradoxien. Ein Lehrer kann uns raten, zu praktizieren, während ein anderer vielleicht sagt, dass Übungen nicht nötig sind. „Sei einfach nur“, erzählt man uns. Manchmal hören wir die einander widersprechenden Anweisungen sogar von ein und demselben Lehrer, je nach dem, wo wir uns auf unserem Pfad befinden.
Was ist also die Wahrheit? Die Wahrheit ist, dass der Pfad und seine Ziele weitgehend außerhalb der Domäne des rationellen Verstandes zu verorten sind. Der Pfad und seine Ziele sind zur selben Zeit die Quelle aller Freude und Freiheit vom Leiden in dieser Welt.
Wir alle finden einen Weg, wie wir uns an unserem eigenen Schopf hochziehen können, um zur letztendlichen menschlichen Erfahrung, die vielleicht als ekstatische Glückseligkeit, leere Bewusstheit (Nichtheit), Einssein mit Allem oder alle von diesen zur selben Zeit umschrieben werden kann, aufzusteigen. Der Verstand versteht das nicht und so stellt es sich für ihn oft als Rätsel dar. Trotzdem sind die Erfahrungen real genug und unser Wunsch nach der Wahrheit spornt uns an. Es ist der Wunsch nach mehr, den wir aus allen Straßen des Lebens kennen und es ist genauso die Brücke zwischen dem Leben, das wir jetzt leben und dem Leben, das wir durch anhaltende spirituelle Öffnungen kennenlernen. Hier gibt es auch ein Paradox. Wunsch und Anhaftung wurden als Fluch des spirituellen Lebens bezeichnet und gleichzeitig auch als königliche Straße zur Erlösung: „Suche und du wirst finden. Klopfe an und dir wird aufgetan.“
Die ganze Reise ist ein Tun ohne ein Tun, eine Kultivierung der Stille im Handeln. Das führt uns geradewegs zu einem anderen Paradox, das wir hier bereits des Öfteren diskutiert haben. „Weniger ist mehr.“
Obwohl „weniger ist mehr“ als etwas Mystisches erscheinen mag, gibt es für diese scheinbare Dichotomie handfeste Gründe. Sie besitzt eine praktische Seite.
Sind wir zum Beispiel im Pranayama der Wirbelsäulenatmung und der tiefen Meditation versunken, was tun wir da? In beiden Fällen verfeinern wir unsere Aufmerksamkeit im Nervensystem, indem wir von weniger zu weniger gehen und damit Reinigung und Öffnung kultivieren und eine immerwährende Ausdehnung im Inneren, was letztendlich in unser tägliches Leben überfließt. Gehen wir systematisch zu weniger, bringen wir mehr in unser Leben: mehr Frieden, mehr Energie, mehr Kreativität, mehr Liebe und so weiter. Das ist die grundlegendste Demonstration, wie weniger zu mehr wird und wir können die Manifestation davon im täglichen Leben beobachten. Es hat seinen Ausdruck in allen Traditionen der Welt gefunden. Schon lange ist bekannt, dass das Transzendieren des äußeren Lebens, um das große Reservoir im Inneren anzuzapfen, die Quelle von allem Glück ist, ob man das in einen religiösen Kontext stellt oder nicht. Es ist auch das Prinzip hinter allem Dienen. Geben wir, geben wir also etwas von uns hin, dann wird der Fluss, der zurückkommt, multipliziert. Weniger wird zu mehr.
Bei den Übungen haben wir im Rahmen der Diskussion von Prinzipien und Übungen der „Selbstabstimmung“ oft auf die praktische Anwendung des „weniger ist mehr“ hingewiesen. Das ist auf alle Ebenen der Praxis ob auf die der Anfänger, Mittelstufe oder der Fortgeschrittenen anwendbar. Entwickeln wir unsere Fähigkeiten in der Selbstabstimmung, können wir viel mehr von unseren Übungen profitieren. Die Mäßigung der Übungen, um einen Ausgleich zu erreichen, bringt die größten Ergebnisse hervor. Sind wir in den Übungen aggressiv und reinigen und öffnen wir uns zu schnell, werden wir feststellen, dass uns das Mehr, das wir tun, geringere Ergebnisse beschert. In diesem Fall ist mehr weniger. Überlastungen können zu langen Verzögerungen in der täglichen Praxis führen. Deshalb ist ein stetiger Kurs, der derartige Episoden vermeidet, der sicherste Pfad.
Haben wir später eine Erweckung der ekstatischen Leitfähigkeit (Kundalini) erfahren, werden wir feststellen, dass ein sich selbst erhaltendes Momentum in unserem Nervensystem aktiv wird. Während wir weiterhin stark von der Regelmäßigkeit einer täglichen Praxis profitieren, finden wir vielleicht heraus, dass es für die Aufrechterhaltung desselben Maßes an andauernder Reinigung und Öffnung nicht mehr so viel Übungszeit oder -intensität erfordert wie in der Vergangenheit. Wir haben dies als „Schwungrad“-Effekt bezeichnet. Da ist unser inneres spirituelles Momentum weitgehend selbsterhaltend. Dies heißt nicht, dass wir mit den Übungen an ein Ende gekommen sind. Wir befinden uns vielleicht nur mehr auf der „Rasierklinge“ beim Aufrechterhalten von gutem Fortschritt mit Bequemlichkeit. Dies ist der Zeitpunkt, an dem Fertigkeiten bei der Selbstabstimmung heikler werden. Dass „weniger mehr“ ist, wird dann in unserem täglichen Leben sehr deutlich. Gleiten wir in ein Übertreiben der Übungen oder in unserem Verhalten ab, finden wir gleich wieder heraus. Deshalb ist für den fortgeschrittenen Yogi/Yogini Mäßigung in allen Dingen die Losung.
Zur selben Zeit nimmt der Fluss aus unserem Inneren zu und im gleichen Verhältnis nimmt unser Einfluss zu, selbst wenn wir weniger zu tun scheinen. Wir haben das „ausströmende göttliche Liebe“ genannt. Es gibt da nur sehr wenig, was wir dazu zu tun müssen. Wir handeln nur ganz natürlich und das Leben geschieht. Mit der Zeit fühlen wir vielleicht, dass wir überhaupt nichts tun, selbst wenn alles geschieht. So sieht es aus, wenn weniger zu mehr wird. Führt man dies zur Vollendung, dann ist es ein Nichts, das zu Allem wird, Stille im Handeln, das Prinzip, das der gesamten Existenz unterlegt ist. Wir sind DIES. Und jetzt sind wir wieder zurück beim Beginn unserer Diskussion. Der Pfad ist die Kultivierung eines Paradoxes in unserem gewöhnlichen Leben, wozu viele praktische Schritte entlang des Weges gehören. Darin finden wir das Praktischste auf der gesamten Welt: nicht endendes Glück.
Der Guru ist in dir.
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