Lektion T69 – Den Stein anhimmeln

Frage: Ich habe gehört, dass einige der berühmten Gurus eine „tantrische“ Beziehung zu ihrem gewählten Ideal unterhielten, auch wenn ihr Ideal durch unbelebte Objekte wie einer Statue repräsentiert war. Zum Beispiel war Ramakrishna dafür bekannt, dass er in ekstatische Hingabe vor der Statue der Göttin Kali verfiel und da waren auch Obertöne erotischer Leidenschaft dabei. Wie kann ein unbelebtes physisches Objekt so eine leidenschaftliche Inbrunst hervorbringen?.

Antwort: Es ist nicht das physische Objekt selbst, das die leidenschaftliche Inbrunst hervorbringt, sondern die Hingabe, die vom Devotee ausströmt. Auch wenn es scheint, als würde der Devotee „einen Stein anhimmeln“, ist das in Wirklichkeit ein göttliches Verliebtsein, das sich im Inneren abspielt. Dies ist Bhakti in großer Intensität und alleine dadurch kann der Prozess der spirituellen Transformation des Menschen vorwärts katapultiert werden.

Abhängig von der Natur der Beziehung des Devotee zu seinem Ishta (gewähltes Ideal), kann die sexuelle Komponente vorhanden sein. Ist das eine Beziehung, zu der geschlechtliche Polarität gehört, wie im Falle von Ramakrishna, kann die sexuelle Komponente direkt aus dem Inneren stimuliert und hochgradig tantrisch sein. Dies unterscheidet sich von einer äußeren sexuellen Beziehung, auch wenn das Endergebnis dasselbe sein wird, wie das für jede tantrische Methode gilt, die die Erhaltung und Kultivierung der sexuellen Essenz (Bramacharya) zum Ziel hat. Die gleiche Dynamik entdeckt man im Fall der überaus ekstatischen christlichen Nonnen, die sich buchstäblich als „Bräute Christi“ verstanden, die ganze Geschichte hindurch..

Die sexuelle Komponente kann selbst dort auftreten, wo es in der Beziehung zum eigenen gewählten Ideal keine besondere Geschlechterpolarität gibt, wie das in der Beziehung zu einer göttlichen Vater- oder Mutterfigur, einem Guru (lebend oder nicht) oder in einer anderen nicht-sexuellen göttlichen Beziehung der Fall sein kann. Aufgrund der spirituellen Verbundenheit, die das gesamte menschliche Nervensystem durchzieht, kann eine Stimulation in der höheren Neurobiologie von Zeit zu Zeit zu sexuellen Symptomen (erotische Erregung) führen. Das kann durch eine Bhakti, die nicht in Beziehung zu einem Geschlecht steht, oder andere spirituelle Praktiken, stimuliert werden. Es ist bekannt, dass nicht-sexuelle Übungen wie die tiefe Meditation und das Pranayama der Wirbelsäulenatmung gelegentlich in sexueller Erregung enden können. Dies ist die Stimulation, die zeitweise in die entgegengesetzte Richtung geht. Sie ist dann nicht mehr spirituell ekstatisch, sondern sexuell erotisch. Beim tantrischen Sex geht es hingegen vom Erotischen zum Ekstatischen. Das ist aber alles Teil der allumfassenden Reinigung und Öffnung, die in der Neurobiologie abläuft.

Aus diesem Grund findet man in den Schriften von berühmten asketischen Heiligen und Weisen Berichte von sexueller Erregung und manchmal sexuelle Fantasien, die damals vielleicht ziemlich unerwünscht waren. Trotzdem waren dies die Stufen auf dem Weg zur Erleuchtung, genauso wie dies die offensichtlicheren tantrisch-sexuellen Praktiken sind.

Die Nutzung physischer Objekte oder Kultbilder zur Stimulation von Bhakti ist sowohl im Osten wie im Westen weit verbreitet – ob dabei die sexuelle Komponente wachgerufen wird oder nicht. Ohne Zweifel können Statuen, Bilder und ganze Landschaften (oder Ozeanschaften) zu einer kraftvollen Hingabe anregen. Sogar der große Advaitin, Ramana Maharshi, hatte sein Kultobjekt: den heiligen Arunachala Berg.

Da gibt es das Phänomen der „heiligen Orte“, ein Ergebnis der hingebungsvollen Handlung großer Weiser und Menschenmassen, die dort im Laufe der Zeit hinpilgern. In diesem Fall kann ein unbelebtes Objekt, ein Ort oder eine Region jedem einen energetischen Auftrieb verleihen, der in die Nähe davon kommt. Heutzutage, wo so viele spirituell Praktizierende überall auf der Welt aktiv werden, wird allmählich die gesamte Erde zu einem heiligen Ort. Wann immer und wo immer wir gewissenhaft praktizieren, tragen wir zu dieser globalen Transformation bei.

Da stellt sich auch die Frage des Götzendienstes, definiert als „Anbetung von Götzen, die nicht Gott sind.“ Was ist aber nicht Gott? Abhängig von den Auswirkungen eines unbelebten Objekts auf das Innere eines Devotee wird Götzendienst durch das bestimmt, was im Inneren einer Person geschieht. Handelt es sich um Anhaftung an das Objekt aus egoistischen Gründen? Oder ist das Anbetung und Hingabe an ein gewähltes Ideal? Das hat wenig mit dem Objekt selbst zu tun. Fließt die Liebe und kommt es zur Hingabe, dann ist das kein Götzendienst, auch wenn es sich um ein „Anhimmeln“ eines Steinbildes, Fotos, Kreuzes oder irgendeines anderen Objektes handelt. Was es im Inneren des Devotee ist, zählt. Es gibt also da keine Kriterien oder Beschränkungen das Objekt betreffend, das man als Vehikel für die göttliche Vereinigung nutzen kann. Es geschieht im Herzen des Devotee. Tatsächlich kann der Bhakti-Prozess schließlich internalisiert werden, so dass das menschliche Nervensystem selbst, der Tempel Gottes, das Königreich des Himmels im Inneren zum Objekt der Hingabe wird. Auch das kann erotisch sein und zur göttlichen Ekstase führen – die freudevolle anhaltende Vermählung der göttlichen Pole der Stille und ekstatischen Energie in uns. Es handelt sich stets um dieselbe Dynamik. Nur das Vehikel ist ein anderes, je nach der Kultur, Religion und den persönlichen Vorlieben, wobei die persönlichen Vorlieben am wichtigsten sind.

Neben dem sexuellen Aspekt, den wir hier diskutieren, ist Tantra bekannt für seine Anerkennung von unzähligen Kultobjekten, Mantras, Mandalas, Symbolen usw, alle zum Zweck der Unterstützung des Bewusstseins, damit es sich von äußeren Fixierungen und Anhaftungen wegbewegen kann. Es kann also jedes Objekt der Wahrnehmung ein Objekt der Götzenanbetung (selbstsüchtiges Flehen) werden. Dasselbe Objekt kann allerdings auch zu einem Vehikel zur göttlichen Transzendierung werden. Die Reise kann beizeiten erotisch sein. Sie kann aber auch rein hingebungsvoll ohne eine erotische Komponente sein. Genausogut kann es sich aber auch um eine Mischung handeln, die sich allmählich im Laufe der Zeit vom Erotischen zum Ekstatischen verschiebt. Das alles spielt sich im Herzen (und der Neurobiologie) des Übenden ab. Es ist ein nachhaltiger Prozess der Reinigung und Öffnung, angetrieben vom spirituellen Verlangen (Bhakti) und den Handlungen, auf die wir uns beim Ausdruck des aus dem Inneren kommenden göttlichen Impulses einlassen.

Der Guru ist in dir.

Über den Autor

Yogani

Yogani ist ein anonymer US Amerikaner, der 2003 begann, im Internet sein spirituelles Wissen in Form von Lektionen zu veröffentlichen und damit auf einen großen Kreis Interessierter weltweit traf. Im Laufe der Jahre entstand Daraus eine umfassende Bibliothek zu allen Aspekten des Yoga. Inzwischen gibt es viele Übersetzungen in andere Sprachen. Die Lektionen sind immer noch kostenlos abrufbar. Heute gibt es auch Bücher, Hörbücher, Ebooks und im Englischen eine PLus-Mitgliedschaft sowie ein gut besuchtes Forum.

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