Lektion 90 – Caduceus-Berichtigung und Wiederholung zu Ida und Pingala
Man hat mich darauf hingewiesen, dass der Merkurstab – obwohl ursprünglich aus einer alten spirituellen Tradition stammend – als Symbol für die westliche Medizin erst vor ungefähr einem Jahrhundert angenommen wurde. Das weist darauf hin, dass die westliche Medizin vielleicht doch keine so erleuchteten Wurzeln hat, wie das in der vorigen Lektion erwähnt wurde. Statt einer „Renaissance“ (Wiederbelebung) ihrer spirituellen Anbindung wird die medizinische Wissenschaft also die Beziehung zwischen medizinischer Wissenschaft und spiritueller Anatomie möglicherweise zum ersten Mal entdecken. Wahrscheinlich geschieht dies, sobald in den kommenden Jahrzehnten mehr ganzheitliche Medizinsysteme wie Ayurveda mit der westlichen Medizin verschmelzen. Der Fokus wird sich dann mehr zu Ausgeglichenheit und Prävention verschieben und hoffentlich wird sich der medizinische Berufszweig dann eines Daseins erfreuen können, das weniger krisenorientiert ist. Die Menschheit verdient eine Ruhephase und genauso der medizinische Beruf. Der Hauptschlüssel zu guter Gesundheit liegt im von uns angenommenen Lebensstil. Am Ende ist nur wichtig, was du oder ich mit unserem Leben anfangen. Und natürlich spielen alle im Gesundheitswesen Beschäftigten – im Sinne von Inspiration und Unterstützung davon – eine wichtige Rolle.
Apropos Inspiration: Den Hermesstab haben wir in den Lektionen aus Gründen von Bhakti – Hingabe an ein höheres Ideal – erwähnt. Wann immer du dieses Symbol mit dem Stab, an dem sich zwei Schlangen zur leuchtenden Kugel hinaufwinden, siehst, hoffe ich, dass du zur Aufrechterhaltung deiner täglichen Übungen inspiriert wirst. Der Hermesstab kann so zur Erzeugung von nützlichem Bhakti genutzt werden. Es ist für den medizinischen Berufszweig – und für uns alle – eine stille Erinnerung an die Realität der menschlichen spirituellen Anatomie.
Öffnen wir hier mal für ein paar Minuten die Motorhaube und betrachten wir Ida und Pingala etwas genauer.
Bei geöffneter Motorhaube sehen wir ein wundersames Gewirr glühender Nerven, von Chakren und ekstatischer Energie, die nach außen flutet. Mein erster Impuls ist, die Motorhaube wieder zufallen zu lassen und zurück auf unsere Yoga-Praxis zu verweisen. Es ist doch so schön, hinter dem Lenkrad zu sitzen und die beeindruckende Landschaft vorbeiziehen zu sehen, anstatt sich unter der Motorhaube zu verlieren. Aber wir sind nun mal hier und starren auf das Innenleben, so wollen wir einmal einiges ausdifferenzieren.
Inzwischen sollten wir mit der Sushumna (dem Wirbelsäulennerv) sehr vertraut sein, da wir bei der Wirbelsäulenatmung damit arbeiten – oder zumindest haben wir uns theoretisch damit beschäftigt und daran gedacht, das zu tun. Für einige ist sie fühlbar geworden, wenn sich ekstatische Ausstrahlung begonnen hat, in dem langen fadenähnlichen, zwischen dem Perineum und dem Punkt zwischen den Augenbrauen verlaufenden Nerv zu regen. Wir können damit spielen, indem wir die Übungen anwenden, die wir bisher gelernt haben. Das ist ziemlich angenehm – wir können sagen ekstatisch. Andere haben die Ausdehnung ekstatischer Ausstrahlung noch in sehr viel größerem Ausmaß erfahren. Dies ist dann der Fall, wenn wir beginnen mit Ida und Pingala Erfahrungen zu machen. Sobald die Kundalini-Energie sich entlang der Sushumna nach außen ausdehnt, kommen bei der Erleuchtung zuerst Ida und Pingala an die Reihe.
Traditionellerweise werden Sushumna, Ida und Pingala als die drei wichtigsten Schnellstraßen einer erwachten Kundalini betrachtet. Diese drei Nerven regulieren den Fluss des Prana durch das gesamte Nervensystem. Dieser regulierende Effekt existiert schon, bevor Kundalini erweckt ist. Tritt die Erweckung einmal auf, dominiert der Prana-Fluss in der Sushumna. Aber auch Ida und Pingala werden erweckt. Ida verläuft an der linken Seite der Wirbelsäule durch die Nerven nach oben und unten und verbindet das Perineum mit dem sensitiven Gewebe hoch oben im linken Nasenloch. Pingala durchläuft die Nerven an der rechten Seite der Wirbelsäule nach oben und unten und verbindet das Perineum mit dem empfindlichen Gewebe hoch oben im rechten Nasenloch. Genauso wie die Sushumna sich ekstatisch ausdehnt, um viel mehr zu umfassen als den winzig kleinen Kanal in der Wirbelsäule, so erweitern sich auch Ida und Pingala ekstatisch, um viel mehr als die begrenzten physischen Dimensionen der außerhalb der Wirbelsäule nach unten und oben verlaufenden Nerven einzuschließen.
Das ist ein Grundsachverhalt, den man beim Nervensystem verstehen muss: Wir beginnen mit den begrenzten physischen Ausdehnungen dort, wo die Nerven sich in unserem Körper befinden. Dann, wenn Kundalini erwacht und die ekstatische Ausstrahlung ansteigt, werden die physischen Dimensionen überschritten. Deshalb entspricht ein Nadi oder spiritueller Nerv nur am Anfang dem physischen Nerv. Wird er erweckt, dehnt sich ein Nadi aus und strahlt Energie weit über den physischen Ort des Nervs hinaus aus. Man kann dies auf zwei verschiedene Weisen betrachten. Wir können sagen, wir „gehen nach innen“ und reisen in einer sich ausdehnenden inneren Dimension. Es fühlt sich so an, als ob sich im Inneren die sinnliche Erfahrung ausdehnt. Die andere Art, das zu betrachten, ist zu sagen, wir „dehnen uns nach außen“ in der physischen Dimension aus. Mit anderen Worten ist die Ausdehnung auf der inneren Ebene dasselbe wie das äußere Ausdehnen in der physischen Dimension. Wir müssen nach innen gehen, um nach außen gehen zu können. Menschen, die Kundalini-Erlebnisse hatten, haben die sich im Inneren ausdehnende Energie als gleichzeitig über den Körper hinausgehend beschrieben. Jeder, der in der Meditation tiefe Stille erreicht, fühlt diese Ausdehnung auch – wie sie nach innen geht, aber auch, wie sie etwas Friedvolles in die physische Welt ausstrahlt. Ob es sich bei der Erfahrung um die Ausdehnung der erwachenden Kundalini handelt oder um die erwachende Stille reinen Glückseligkeitsbewusstseins in der Meditation, dahinter steht eine Ausdehnung der Nadis. Beides sind verschiedene Seiten derselben Medaille. Es ist alles die Ausdehnung reinen Glückseligkeitsbewusstseins.
Was bedeutet dies also in Bezug auf die Erfahrung von Ida und Pingala? Werden diese beiden Nerven durch die Ausdehnung der Sushumna erweckt, dehnen sie sich ebenso über die physischen Nerven hinaus aus und erscheinen wie Peitschen ekstatischer Energie, die sich in Bögen aus der Wirbelsäule heraus und um sie herum bewegen. Sie bleiben dabei nicht statisch an einem Ort. Sie bewegen sich, kreisen, so dass man kaum links von rechts unterscheiden kann. Einer ist heiß, der andere kalt und das bringt die Empfindungen von Hitze und Kälte hervor, wie sie im Körper gleichzeitig existieren. Das ergibt eine spiralähnliche Wirkung. Stell dir eine rotierende Säule ekstatischer Energie vor, die sich vom Zentrum deiner Wirbelsäule nach außen ausdehnt. Das ist die Sushumna. Nun stell sie dir von wirbelnden Peitschen ekstatischer Energie umgeben vor. Das sind Ida und Pingala.
An bestimmten Punkten entlang der Wirbelsäule fließen diese drei Energien in ihrem ekstatischen Tanz zu sich drehenden Wirbeln zusammen. Diese Punkte des Zusammenfließens sind die so genannten Energiezentren oder Chakren. Sushumna, Ida und Pingala sind die Hauptleitungen, die die Chakren miteinander verbinden. Sobald die Nerven erwachen, erwachen auch die Chakren. Dies beginnt, wenn die Wirbelsäulennerven zu einer ekstatischen Ausstrahlung erwachen. Aber bevor irgendetwas davon geschieht, beginnt es langsam in Form der sanften Reinigung aller Nerven durch Meditation.
Die Abfolge bei der Erweckung in diesen Lektionen beginnt zuerst mit der globalen Reinigung des Nervensystems durch Meditation, wird gefolgt von sanfter Erweckung der Sushumna durch Wirbelsäulenatmung und geht schließlich zu zielgerichteteren Übungen über, die für die Ausdehnung der ekstatischen Strahlung in unendliche Regionen sorgen. Nicht alle Ansätze des Yoga gehen so vor. Einige sind darauf aus, die Sushumna unmittelbar zu erwecken, bevor irgendetwas Bedeutendes durch die Meditation erreicht ist. Andere bemühen sich darum, zuerst Ida und Pingala auszugleichen und befassen sich danach mit der Sushumna. Wieder andere arbeiten zuerst direkt mit den Chakren. Wie auch immer die einzelnen Ansätze vorgehen, das Endergebnis wird gleich sein: ein vollkommen erwecktes Nervensystem, das sich in strahlender Ekstase weit über die Begrenzungen des physischen Körpers ausdehnt. Alle Wege führen nach Hause, auch wenn die einzelnen Routen beträchtlich voneinander abweichen können.
Okay, schließen wir also die Motorhaube und klettern hinter das Lenkrad zurück. Es gibt da noch ein paar weitere Steuerelemente (fortgeschrittene Yoga-Übungen), die wir gleich erörtern und die uns helfen können, auf unserem Weg ein wenig zu beschleunigen.
Der Guru ist in dir.
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