Lektion 357 – Wer nimmt wahr?

Frage: Nachdem ich eine Zeit lang fast jeden Tag meditiert habe, merke ich, dass ich getrennt bin von den Dingen, die sich in meinem Leben ereignen. Ich betrachte sie von einem Ort, der sich außerhalb befindet. Ich bin in der Lage, ganz gut mit Leuten umzugehen, doch ich bin abgeschieden und beobachte, was ich tue und was andere tun. Ich habe nun Interesse an und beginne mit der Selbst-Analyse, hauptsächlich weil ich wissen will, um was es bei dieser Zeugenschaftssache geht. Kannst du mich anweisen, wo ich beginnen soll? Ist dieses Gefühl des Getrenntseins, das mich manchmal befällt, etwas, das sich in einen mehr einheitlichen Zustand verwandeln wird?

Antwort: Es hört sich so an, als hättest du bereits auf natürliche Weise mit der Selbst-Analyse begonnen. Das Aufkommen der bleibenden Stille inspiriert dazu in der Regel automatisch und wir können darauf aufbauen. 

Um was geht es bei dieser „Zeugenschaftssache“?

Du befindest dich bereits in einem idealen Zustand, um nachzuforschen und deiner Neigung entsprechend vorwärtszugehen. Du brauchst nur ein paar Fingerzeige und schon kommst du gut voran.

Das Gefühl des Getrenntseins, das du hast, wird vorübergehen. Das ist nur ein Zwischenstadium, zu dem es kommt, wenn unser Sinn für das Selbst sich verändert und nicht mehr in der Wahrnehmung der Welt, sondern außerhalb unserer Wahrnehmung der Welt ist. Verfeinert sich unsere Wahrnehmung innerhalb der unendlichen Ausdehnung unseres Zeugen weiter, stellen wir fest, dass sich die Welt in uns befindet. Wir haben einen Wechsel um 180 Grad vollzogen. Das ist Fülle ohne eine Trennung – Einheit. Das ist die Reise von der bleibenden inneren Stille (Stufe 1) in die Verfeinerung der Wahrnehmung (Stufe 2) und dann zu einem Nach-innen-Kehren in die Einheit (Stufe 3).

Wir wissen, dass die erste Stufe vor allem von der tiefen Meditation abhängt. Zur zweiten Stufe gehören unsere ekstatische Erweckung und das Nach-innen-Kehren der sinnlichen Wahrnehmung, was durch das Pranayama, Asanas, Mudras, Bandhas und tantrische Techniken angegangen wird. Die dritte Stufe sind die Domäne von Samyama und Selbst-Analyse, wie wir dies in vorhergehenden Lektionen besprochen haben. Unsere Bhakti spielt in all diesen Stufen eine Schlüsselrolle. 

Ist der Zeuge einmal da, neigen wir anfangs vielleicht dazu, ihn auf praktische Weise einzusetzen, um unsere Lebensqualität zu verbessern. Unsere Fähigkeit, unerwünschte Gedanken und Gefühle loszulassen, ist eins der ersten Dinge, die wir bemerken. Das ist etwas Natürliches. Sehen wir unsere Gedanken und Gefühle als die Objekte an, die sie sind, und nicht als Erweiterungen unseres Selbst, dann wird es leicht, sie loszulassen und weiterzugehen zu befriedigenderen Formen des Denkens und Fühlens – und zwar ohne die „Blockierungen“, die wir in der Vergangenheit erfahren haben. Du hast dazu heute mehr Wahlfreiheit, als du das jemals zuvor hattest. Das ist die Kraft des Zeugen und der Beginn der Selbst-Analyse.

Abhängig von deinen Neigungen wünschst du möglicherweise, direkter in die Natur dessen einzudringen, wer oder was sich hinter „dieser Zeugensache“ befindet. Dazu stellst du vielleicht fest, dass du beginnst, zwischen dem Beobachter (deinem Sinn für das Selbst), den Mechaniken der Wahrnehmung (deine neurobiologischen Prozesse) und den Objekten der Wahrnehmung, die in dein Bewusstsein projiziert werden, zu unterscheiden.

Alles, was wir wahrnehmen, ist eine Projektion auf unsere Bewusstheit, die entweder von unseren Sinnen oder von gespeicherten Eindrücken und Erinnerungen in unserer Neurobiologie stammt. Alles! All unsere Gedanken und Gefühle leiten sich von diesen begrenzten Quellen ab. Was wir sehen, ist nicht die wirkliche Welt oder das wirkliche Irgendetwas. Alles, was wir wahrnehmen, ist ein in unserer Neurobiologie erscheinendes Konstrukt. Deshalb sagen die Jnanis und die Advaitas, dass die Welt, die wir sehen, nicht real ist – dass sie nicht existiert. Was wir sehen, entsteht erst in unserer Neurobiologie und wird dann wie ein Spielfilm auf die Leinwand unserer Bewusstheit projiziert. 

Unser Verstand ist ein Konglomerat von Gedanken, die aufgrund all dieser inneren Aktivität aufsteigen und unser Ego-Selbst ist eine Identifizierung unseres Bewusstseins mit dem, was wir den Körper/Verstand nennen. Unser Ego-Selbst ist eine Idee, eine Projektion im Verstand, die Besitz über alle anderen Projektionen ergreift. Es ist die Wurzel der persönlichen Identität. Richtiger noch ist es die „Identifikation“ unseres Bewusstseins mit dem Spielfilm, der in unserer Neurobiologie abläuft. Und das nennen wir „ICH“. Es ist der Ich-Gedanke. Doch was ist es in Wirklichkeit?


Sobald der Zeuge auf der Bühne erscheint, beginnen wir, all das in einem neuen Licht zu betrachten. Du hast das damit angedeutet, dass sich dein Selbst jetzt etwas außerhalb des Handlungsfeldes befindet. Den Ich-Gedanken hast du immer noch. Deshalb stellt sich naturgemäß die Frage: „Was geht hier vor?“

Von hier aus kannst du zwei grundsätzliche Wege der Analyse einschlagen. Falls du dazu neigst, kannst du auch beide Routen gleichzeitig beschreiten. Du kannst damit beginnen, das, was Projektionen von Objekten in deinem Bewusstsein und keine Realität sind, eine nach der anderen, sobald sie auftauchen, abzuschälen (ablegen, negieren) und dir dabei bewusst zu sein, dass sie Projektionen und keine Realität sind. Dies ist ein endloser Prozess, denn die Anzahl der projizierten Objekte ist endlos. Doch möglicherweise ist es für jemanden, bei dem der bleibende Zeuge bereits aufgekommen ist, erfüllend (und sogar Freude voll) und für jemanden, bei dem er noch nicht aufgekommen ist, eine Schinderei. Es kann den ganzen Tag lang „nicht dies, nicht das“ sein. Wir müssen aber immer noch in der Welt funktionieren. Das können wir aber auch, wie wir festgestellt haben, solange wir es nicht übertreiben und unsere Analyse in die Stille nicht zu einer mentalen Obsession werden lassen.

  • Man kann die Analyse auch darauf richten, WER der Wahrnehmende dessen ist, was geschieht. Die Antwort wird immer dieselbe sein. Es ist „ich“. Dann kommt die Frage auf: „Wer oder Was bin ich?“

Unter der Annahme, dass wir den Zeugen gegenwärtig haben, zusammen mit der damit einhergehenden Verfeinerung der Wahrnehmung (ekstatische Leitfähigkeit), kann diese Art der Nachforschung zu einer Abkürzung bei der Projektion von Wahrnehmungsobjekten auf die Leinwand unseres Bewusstseins führen. Es ist bemerkenswert, wie die Frage: „Wer nimmt dies wahr?“, ein Objekt auflösen kann, bevor es die Leinwand unseres Bewusstseins voll in Beschlag nimmt. Wir können ohne Weiteres augenblicklich von der Wahrnehmung eines Objektes auf den Wahrnehmenden umschwenken. Das ist eine nützliche Gewohnheit, die man entwickeln kann. 

Jetzt kommen wir zur Frage des Wahrnehmenden. Kann der Wahrnehmende der Ich-Gedanke sein? Das kann er nicht, denn der Ich-Gedanke ist nur ein Gedanke, ein Objekt, das von der Maschinerie des Geistes in unsere Bewusstheit projiziert wird. Ein Objekt kann nicht der Wahrnehmende sein. Das Wahrgenommene kann nicht der Wahrnehmende sein. Es kann lediglich so tun, als sei es der Wahrnehmende. Sobald wir jedoch fragen: „Wer ist dieser Ich-Gedanke?“, wird er wie jede andere Gedankenprojektion in die Stille hinwegschmelzen.

Jetzt kommen wir zur Frage des Wahrnehmenden. Kann der Wahrnehmende der Ich-Gedanke sein? Das kann er nicht, denn der Ich-Gedanke ist nur ein Gedanke, ein Objekt, das von der Maschinerie des Geistes in unsere Bewusstheit projiziert wird. Ein Objekt kann nicht der Wahrnehmende sein. Das Wahrgenommene kann nicht der Wahrnehmende sein. Es kann lediglich so tun, als sei es der Wahrnehmende. Sobald wir jedoch fragen: „Wer ist dieser Ich-Gedanke?“, wird er wie jede andere Gedankenprojektion in die Stille hinwegschmelzen.Wer ist also dann der Wahrnehmende? Es ist das, was kein Gedanke ist, kein Objekt. Es ist der Beobachtende, der sich hinter der Maschinerie der Wahrnehmung befindet. Es ist die Leinwand, auf die alles projiziert wird. Es ist unsere uns angeborene Bewusstheit, der Zeuge, der dies in diesem Augenblick erlebt. Es ist dein SELBST.

Letztendlich ist diese Erkenntnis kein logischer Prozess im Verstand. Sie kann ohne die Gegenwart des Zeugen keinen Bestand haben. Das SELBST ist kein Gedanke oder Ding. Es ist ein direktes experimentelles Wissen, zu dem wir bewusst „werden“, sobald unser Sinn vom Selbst wechselt von dem, was eine Projektion ist, zu dem, was hinter allen Projektionen ist. Wir sind DAS – ewige, ausstrahlende Freude!

Der Guru ist in dir.

Über den Autor

Yogani

Yogani ist ein anonymer US Amerikaner, der 2003 begann, im Internet sein spirituelles Wissen in Form von Lektionen zu veröffentlichen und damit auf einen großen Kreis Interessierter weltweit traf. Im Laufe der Jahre entstand Daraus eine umfassende Bibliothek zu allen Aspekten des Yoga. Inzwischen gibt es viele Übersetzungen in andere Sprachen. Die Lektionen sind immer noch kostenlos abrufbar. Heute gibt es auch Bücher, Hörbücher, Ebooks und im Englischen eine PLus-Mitgliedschaft sowie ein gut besuchtes Forum.

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